Die erste Éducation Sentimentale


    Was für eine Nacht habe ich verbracht, Henry; die Liebe kann einen nicht so fiebern lassen. Ich konnte zuerst nicht schreiben, so aufgewühlt war ich; ich hielt die Feder in der Hand, aber ich zitterte, es schüttelte mich; ich versuchte mich zu beruhigen, ich wollte nachdenken, unmöglich! Umwillkürlich hörte ich schon den Applaus von den Logen herab aufbrausen und das Gemurmel menschlicher Stimmen, die voll des Lobes meinen Namen aussprachen. Vergeblich beschwor ich hundertmal meine Vernunft, es zog mich vowärts, zu einem strahlenden Horizont, zu einem schwindelerregenden Abhang; ein Dämon suchte mich heim.
    Los, nur Mut, sagte ich mir, verliere keine Zeit! und meine Hand flog wie im Rausch über das Papier, ungeduldig, weil der Satz, um festgehalten zu werden, niedergeschrieben werden musste, und es gleichzeitig bedauernd, dass er so, wie er neu entstand, nicht gleich die fertige Form hatte, sondern dass man ihn erst allmählich wachsen lassen und formen musste. Hin und wieder erhob ich mich vor Ungeduld ermüdet, lief mit grossen Schritten hin und her, wobei ich ganz laut meinen Gedanken deklamierte, bis er seine Form gefunden hatte, und dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, um ihn eilig aufzuschreiben, voll Freude darüber, ihn zu sichern und unruhig wegen dem, der als nächster nachfolgen wird, glücklich darüber, mein Werk der Vollendung entgegengehen zu sehen, und schon stolz auf es, wie die junge Mutter, die, noch unter Schmerzen, das unermüdliche Wimmern ihres ersten neugeborenen Kindes vernimmt.

    9 Uhr abends
   Ich wollte meinen Brief beiseite legen und ihn an dich abschicken, wenn ich vom Theater zurückgekommen wäre, nachdem ich meinen fünften Akt vorge- lesen hätte, um dir den Rest zu erzählen, doch die Lesung ist auf morgen verschoben worden; ich war bei Bernardis Hotel, er ist erkrankt, ich fand ihn im Bett liegend vor, gut versorgt mit Zitronen und Zuckerstücken. Der Alte, der auch den Prior spielen soll, betreut ihn, dabei macht er ihm auch Zigaretten aus Maryland.
     Lebwohl, lieber Henry, in zwei oder drei Tagen wirst du von mir einen neuen Brief bekommen. Antworte mir, du weisst, wie ich dich liebe!
           JULES

     P.S.– Du wirst kommen, nicht wahr, wenn man mich spielt; ich zähle auf dich; übrigens wirst du am besten express kommen. Lebewohl."

    An dem Tag, an dem Henry diese Zeilen las, hatte Ternande am Morgen einen Blumenstrauss für Mme Renaud gebracht, sie fand ihn reizend und aller- liebst und hatte ihn selbst in eine der Porzellanvasen gestellt, die den Kaminsims schmückten. Zudem mied sie seit einigen Tagen Henry und senkte den Blick, wenn er sie ansah; manchmal umarmte sie sogar ihren Gatten, der in der Tat der beste Mann der Welt war, und der ihr daraufhin zwei dicke Küsse auf die Wangen gab, von der Art unverschämter Küsse vom legitimen Gatten, die sie in aller Öffentlichkeit ihrer Besseren Hälfte geben, mit einem so naiven Zynismus, dass man eher darüber lachen muss, als dass einem dabei übel wird.