In der Corona-Krise  –  Fontane  Der Stechlin


     Nach den ersten einhundertzwanzig Seiten vom  Stechlin,  ich konnte mich an den ersten schönen Sonnentagen zum Lesen in den Tiergarten setzen, habe ich erst einmal eine Pause eingelegt. Die Handlung des Romans war, nach einer Art vorbereitendem Erkunden des Terrains, der Vorstellung des Alten, Dubslav von Stechlin, in seinem Herrenhaus, nach einem Durchstreifen der Gegend, des Ruppiner Landes mit dem Stechlin-See, mit kleinen Ortschaften und Klöstern im Märkischen Hinterland, nun mit der Ankunft des Jungen Stechlin, Woldemars, in Berlin angekommen.

   Was bisher geschah, ist scheinbar leicht zusammenzufassen: Ankunft Wolde- mars mit zwei Freunden, Rex und Czako, auf dem Stechlinschen Herrensitz, Begrüssung und gemeinsames Speisen in erweiterter Runde, am nächsten Tag Ausritt nach Wutz zu einem Besuch bei der Schwester des Alten, Adelheid, "Domina" eines Damenstifts, Abreise. Was darüber hinaus passiert, spielt sich überwiegend in den geführten Unterhaltungen in wechselnden Besetzungen ab. Diese Gespräche, launig, aber auch anspruchsvoll und oft belehrend und künst- lich wirkend, sind gespickt mit Ausführungen zur Historie, mit Wissenswertem, "Bildungsmässigem", Kulturhistorischem wie auch sonstwie Bemerkenswertem: die Niederlage und das Ende eines Hohenlohe, der Dreissigjährige Krieg, die Schwedenzeit, Fehrbellin und Leipzig, die Kriege von 1864, 66 und 70/71; dazu Anmerkungen über Rheinsberg, den Prinzen Heinrich und seine abartigen Marotten, aber auch über ein Phänomen im Stechlin-See, eine angeblich aufsteigende Fontäne, wenn an einem weit entfernten Ort der Erde ein Vulkan ausbricht: so bei dem Ausbruch des Krakatowa (Krakatau).

    Nicht nur um Historisches: Die Gespräche drehen sich auch um die gesell- schaftlichen Zustände im Wilhelminischen Preussen Ende des 19.Jahrhunderts, um Orientierung und darum, Stellung zu beziehen in der sich wandelnden Gesellschaft mit den Umwälzungen infolge technischer Neuerungen wie der Revolutionierung der Kommunikation durch die Telegrafie (hier lassen sich Parallelen zur Gegenwart, zu der Revolutionierung der Kommunikation durch das Internet, ziehen!), der sich wandelnden Sprache, beispielsweise durch den Gebrauch englischer Ausdrücke, wohingegen das von der Besseren Gesellschaft bisher bevorzugte Französisch "abgemeldet" sei. Das Faible Fontanes, der von Réfugiés abstammt, für das Französische verrät sich durch das Einfliessen- lassen von Ausdrücken wie "ein gewisses je ne sais quoi", "à la bonne heure", "c'est le premier pas qui coûte", "mit einem gewissen Empressement", oder "Célibataire".

    Weiteren Gesprächsstoff und Gelegenheiten für Meinungsäusserungen und Anmerkungen zum gesellschaftlichen und politischen Geschehen sowie dem "Zeitgeist" liefern Themen wie der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie einerseits, die Rolle der Religion, die verschiedenen Strömungen des Protestan- tismus in Preussen (der Hofprediger Stöcker!) andererseits. Und, alles beherr- schend, der preussische Militarismus, der alle gesellschaftlichen Bereiche durch- dringt, mit den Standesunterschieden – meist adeliges Offizierscorps auf der einen, Bürgerliche auf der anderen Seite – wobei der militärische Rang, der Name der militärischen Einheit, der man angehört, die gesellschaftliche Stellung bestimmt, bei einer Heirat beispielsweise auch, was als eine "gute Partie" gilt.