Das war vor über vierzehn Tagen. Inzwischen war das Pfingst-Wochenende und wir haben Anfang Juni, mit ein
paar schon ziemlich warmen Tagen. An einem der Pfingsttage war das Wetter schon angenehm genug, um mich wieder im
Tiergarten auf eine Bank zu setzen und nach einer längeren Pause wieder ein wenig weiterzulesen.
Der Alte Stechlin war bei der Nachwahl zum Reichstag wie zu erwarten dem sozialdemokratischen Kandidaten
unterlegen, worüber er nicht unglücklich war, weshalb sich auch der Sohn, Woldemar, keine Sorgen wegen der
Verfassung seines Vaters machen musste. Er selbst war gefordert, Abkommandierung für längere Zeit nach
Ostpreussen, und hatte nur kurze Gelegenheiten, die Gräfliche Familie aufzusuchen: einmal kurz vor Antritt einer
Reise nach England. Die Beziehungen zu den Schwestern haben sich inzwischen so weit geklärt, dass er die
jüngere der beiden, die Komtesse, vorzieht und seine Wahl auf sie fällt, die sich nun als seine Verlobte
betrachten kann.
Ein neues Wochenende, bewölkt, aber warm genug, um mich wieder einmal im Tiergarten, genauer gesagt im
Rosengarten mit dem Stechlin auf eine Bank zu setzten. Bevor ich aber die Stelle aufsuchte, bis
zu der ich zuletzt gekommen war – "Antrittsbesuch" des jungen Bräutigams und der Braut beim Alten in
Stechlin –, habe ich noch einmal zurückgeblättert, um mir in Erinnerung zu rufen, was mir zum Teil
nicht mehr ganz gegenwärtig war, wie beispielsweise die karikaturhaft bissige Schilderung der Alte-Herren-Runde
der Konservativen nach der Wahl-Schlappe, wobei von einem Redner ein Ausspruch aus Frankreich nach der Niederlage
von 1870/71 zum Vergleich herangezogen wurde, nach dem man sich als "glorreich Besiegte" betrachten konnte.
Aber zu noch weiteren tief- oder gar abgründigen Beobachtungen und Über- legungen liess Fontane den
einen oder anderen Redner sich hinreissen: über die Hinrichtung einer Witwe (deren Fall galt als eine "cause
célèbre"), die dadurch verkompliziert wurde, dass die Frau einen Kropf hatte. Weiteren Stoff für
Diskussionen boten: "unsere Duellsituation", aber auch das "Ausreissen" von Paaren nach Gretna
Green, um sich dort trauen zu lassen; auch das gab es damals also schon. Oder, noch weiter ausholend zu fremden
Kulturen: Betrach- tungen über höchst fremdartige Bräuche ("ja, diese Orientalen!"), wie
beispiels- weise ein Ritual, das an einer Prinzessin vollzogen wird, die, nachdem sie von einem feindlichen
Herrscher entführt und "berührt" wurde, wieder im Triumph an ihren Hof zurückgebracht worden ist:
zur Wiederherstellung ihrer "Unberührtheit" (Einwurf eines der anwesenden Herren: "Berührt ist
berührt!") wird sie zunächst in eine Wanne mit Blut von frisch geschlachteten Büffeln getaucht
und an- schliessend in eine weitere, in der "alle Wohlgerüche Arabiens versammelt sind". Erst dann kann die
Prinzessin geläutert eine neue Verbindung eingehen.