Die erste Éducation Sentimentale

 Einundzwanzigstes Kapitel

    Welche Freude für unsere Liebenden, sich nach zwei Monaten der Trennung wiederzusehen! Mme Émilie hatte sie ziemlich bedrückt verbracht, fern von dem Herzen, das das ihre verstand, und von den Augen, in denen sich zu spiegeln sie so sehr liebte; die Wände ihres Zimmers hatten zweifellos einige wehmütige Seufzer vernommen, und wenn ihr Fenster hätte reden können, dann hätten wir erfahren, mit welch zärtlichen Blicken sie den Wolken, die zu dem Landstrich ihres Geliebten zogen, hinterhersah, gleich einer Schlossherrin, die an ihrem Spitzbogenfenster von dem Troubadour träumt, der zu einem Kreuzzug losgezogen ist. Sie zählte die Tage auf ihrem Kalender, schrieb einen Brief, während sie einen weiteren erwartete, las die bisherigen; sie ging in Henrys Zimmer und betrachtete nach Herzenslust die Vorhänge, den Fussboden, die Stühle, das Bett, all jene stummen Zeugen ihres Glücks.

    Mlle Aglaé war häufig gekommen, sie zu besuchen, vor ihr blieb nichts verborgen, ihr wurde alles anvertraut, vielmehr wurde es ihr überlassen, alles zu erraten, und als alles offengelegt war, wurde sie um Hilfe gebeten, zu der sie gern bereit war. Sie war eine Frau, die dafür geboren war, sie kannte so viele Komödien und konnte eine so grosse Zahl von Liebesgedichten auswendig hersagen, dass sie hätte unterrichten können, wie man eine Intrige oder eine Hochzeit einfädelt, angefangen von der Vorstellung oder dem ersten Treffen bis zur Auflösung. Man begegnet auf der Welt solchen vielseitig erfahrenen Geschöpfen, die alle Winkelzüge des Lebens wie eine Wissenschaft beherr- schen, ohne jemals für sich selbst agiert, und alle Feinheiten der Liebe, ohne geliebt zu haben; sie mischen sich in alles ein, sehen alles, stecken ihre Energie in Intrigen, entfachen Leidenschaften, schüren Hass, quälen euch zum Vergnü- gen und weisen euch aus Stolz ab, leben mit ihrem Verlangen und sterben als Jungfrauen. Mlle Aglaé war von dieser Art; ihr Auftreten war das einer Kokette, sie kannte sich mehr aus als eine Dirne, und doch war sie prüde.

    Die Ringe, die Émilie und Henry ausgetauscht hatten, waren von ihr in Auftrag gegeben worden; sie hatte den Maler für ihre Porträts ausgewählt; und die Briefe, die sie austauschten, gingen durch ihre Hände; doch respektierte sie zwar strengstens ihre Vertraulichkeit, waren sie aber erst von ihrer Freundin gelesen worden, dann durfte sie sie selbst lesen und immer wieder lesen, was ihr fast so viel Freude bereitete, als wären sie an sie selbst gerichtet.
    Sie war ihnen so willkommen, so vertraut mit all ihren Launen, dass sie manchmal als Dritte bei ihren Zusammenkünften dabei war, so dass Henry nicht nur einer, sondern zwei Frauen den Hof machte; er musste ihr in der Tat etwas Nettes sagen, und Mlle Aglaé hatte Gefallen an diesem Spiel, das Mme Émilie weniger gefiel.
  – Sie ist uns sehr gefällig, sagte diese am Morgen nach seiner Rückkehr zu Henry, aber ich möchte nicht mehr, dass sie kommt, wenn du da bist, ich möchte nicht, dass ausser dir jemand hört, was ich dir sage; sie bleibt nur, wenn noch Leute da sind, noch weitere Personen, und wir nicht allein sind.