Doch nach fünf Minuten dachte er an Mme Émilie, die ihn erwartete, und setzte seinen Weg fort;
er dachte auch mit Vergnügen an den Neid, den Morel auf ihn wegen seines Glücks hegte, und atmete tief
ein. Es war eine warme Nacht, auf den Strassen waren keine Menschen, das Pflaster glänzte im Mondlicht, und
die Luft war lieblich wie in einem Park.
Schon sah er ihr Haus, die lange weisse Gartenmauer, die schwarze Masse der Bäume, die über sie
hinausragte. Etwas Weisses erschien im ersten Stock hinter dem dunklen Grün der Bäume im silbrigen
Dunst der Nacht. Er blieb stehen, die Gestalt bewegte sich nicht. Er ging weiter heran und sah sie deutlicher
zwischen den hellen Blättern einer Akazie.
Auf einmal war ein leises Räuspern zu hören, sie hatte ihn an seinen Schritten erkannt
– Hum! hum! machte sie.
– Hum! hum! antwortete Henry.
Zwanzigstes Kapitel
Die ernsten moralischen Schmerzen lassen einen wie die Müdigkeit des Körpers vor Mattigkeit
erschlaffen, so dass der Geist unfähig ist, etwas zu wollen, und die Glieder nicht in der Lage, eine Handlung
auszuführen. Wenn jemandem das Blut oder die Tränen eine lange Zeit geflossen sind, dann empfindet er
sogar ein gewisses Glück in der Betäubung, die auf die Schmerzen der Wunden oder auf die Seelenqualen
folgt; man muss sehr geweint haben, um das Seufzen angenehm zu finden. Dieser Zustand, den ich als
nachdenkliche Hoffnungs- losigkeit bezeichnen werde, war bald für den Freund Henrys, den armen Jules,
gekommen, dem an einem einzigen Tag das Unglück seine Liebe, all seine Hoffnungen, genommen hatte, so wie
ein hungriger Wolf in einer Nacht eine ganze Herde reisst.
Wie dieses menschliche Leben, das er sich im Morgengrauen als so schön vorgestellt hatte, sich für ihn
als trostlos und leer erwiesen hatte! wo war die Leidenschaft geblieben, von der er geträumt hatte? der Ruhm,
den er erringen wollte? verschwunden! verschwunden! verschwunden mit der Truppe von Strolchen, die ihm die
Schulden in der Herberge hinterlassen hatten.
Düsterer und niedergeschlagener als am Morgen nach einer Orgie hatten die vergangenen Ereignisse auf ihn die
Wirkung eines dieser namenlosen Träume, in denen man übermenschliche Schönheiten und unerhörte
Herrlichkeiten erblickt hat, an die sich nur undeutlich zu erinnern einer Hinrichtung gleichkommt.
Als er in der inneren Rückerinnerung an all die Tage, all die Minuten, die verflossen waren, auf- und abgestiegen
war, seit dem Morgen, an dem er Bernardi begegnet war, bis zu dem Abend, an dem er mit dem Tod in seinem Innern zu
seinem Vater zurückgekehrt war; als er all das in seiner Gesamtheit und dann eines nach dem anderen im Einzelnen
betrachtet hatte, begann er noch einmal von neuem und dann noch ein weiteres Mal wie in einer Bildergalerie, in der
man noch einmal von vorn beginnt, wobei man bei jedem Eindruck, jeder Form, jedem Lächeln, das einem in den Sinn
kommt, innehält, bei jedem gesprochenen Wort, jeder Falte eines Gewandes, und alles mit Musse auf sich
einwirken lässt, bis man gesättigt danach verlangt, von einer anderen Bitterkeit zu kosten.