Zwanzigstes Kapitel
Die ernsten moralischen Schmerzen lassen einen wie die Müdigkeit des Körpers vor Mattigkeit
erschlaffen, so dass der Geist unfähig ist, etwas zu wollen, und die Glieder nicht in der Lage, eine Handlung
auszuführen. Wenn jemandem das Blut oder die Tränen eine lange Zeit geflossen sind, dann empfindet er
sogar ein gewisses Glück in der Betäubung, die auf die Schmerzen der Wunden oder auf die Seelenqualen
folgt; man muss sehr geweint haben, um das Seufzen angenehm zu finden. Dieser Zustand, den ich als
nachdenkliche Hoffnungs- losigkeit bezeichnen werde, war bald für den Freund Henrys, den armen Jules,
gekommen, dem an einem einzigen Tag das Unglück seine Liebe, all seine Hoffnungen, genommen hatte, so wie
ein hungriger Wolf in einer Nacht eine ganze Herde reisst.
Wie dieses menschliche Leben, das er sich im Morgengrauen als so schön vorgestellt hatte, sich für ihn
als trostlos und leer erwiesen hatte! wo war die Leidenschaft geblieben, von der er geträumt hatte? der Ruhm,
den er erringen wollte? verschwunden! verschwunden! verschwunden mit der Truppe von Strolchen, die ihm die
Schulden in der Herberge hinterlassen hatten.
Düsterer und niedergeschlagener als am Morgen nach einer Orgie hatten die vergangenen Ereignisse auf ihn die
Wirkung eines dieser namenlosen Träume, in denen man übermenschliche Schönheiten und unerhörte
Herrlichkeiten erblickt hat, an die sich nur undeutlich zu erinnern einer Hinrichtung gleichkommt.
Als er in der inneren Rückerinnerung an all die Tage, all die Minuten, die verflossen waren, auf- und abgestiegen
war, seit dem Morgen, an dem er Bernardi begegnet war, bis zu dem Abend, an dem er mit dem Tod in seinem Innern zu
seinem Vater zurückgekehrt war; als er all das in seiner Gesamtheit und dann eines nach dem anderen im Einzelnen
betrachtet hatte, begann er noch einmal von neuem und dann noch ein weiteres Mal wie in einer Bildergalerie, in der
man noch einmal von vorn beginnt.[...]
Wenn Henry ihm von den intimen Zusammenkünften berichtete, die seine Geliebte ihm gewährte, und ihm von den
Vergnügungen in allen Einzelheiten erzählte, dann liess er Henry gewähren und antwortete nur einsilbig;
wenn Henry ihm die Briefe vorlas, die sie ihm schickte – denn sie schrieben sich häufig, Henry an die
Adresse von Mlle Aglaé und Mme Émilie an die von Jules – tat dieser so, als sei er voller
Bewunderung, doch in Wirklichkeit fand er den Stil abscheulich, die Ausschmückungen abgeschmackt und das
Französisch recht fragwürdig. Wer weiss, ob er nicht erfreut gewesen wäre, solche Briefe zu
erhalten?
Nichts konnte Henry davon abhalten, von etwas Anderem zu sprechen; Jules kannte im Geiste alle Zimmer des Hauses
von M.Renaud, alle Kleider von Mme Renaud, einschliesslich ihrer Jäckchen und Nachthemden. Gern hätte
Henry ihn so glücklich gesehen wie er selbst es war. Jules hoffte, dass es ihm eines Tages gelingen
würde, für all dies Mitleid zu empfinden.
Manchmal allerdings fragte er sich, wie es ihm ergangen wäre, wenn Lucinde ihn geliebt hätte, und was
für herrliche Briefe er ihr geschrieben hätte, die heissen Worte, die er auf seinen Knieen zu ihr gesagt
hätte; Henry hingegen wandte sich nicht zu dem Vergangenen zurück und malte sie sich nicht in einer
anderen Farbe aus, denn nur die Unglücklichen üben sich in ihrer Vorstellung darin, solche Umwandlungen
vorzunehmen.
Die Liebe hatte ihn verschönert, seine Stirn schien vergrössert und sein Blick fester, sein gesamter
Körper schien kräftiger und gelenkiger geworden zu sein, aus seinen Bewegungen atmete eine heitere
Zufriedenheit, er hatte das Aussehen eines Mannes, der geliebt wurde; Jules dagegen kleidete sich auf eine
einfältige Art, er trug Gewänder ohne Knöpfe und zu grosse Hüte.