Die erste Éducation Sentimentale


    Ihre Leidenschaft begann, nachdem sie eine lange Zeit gegoren hatte, wie alter Wein zu versauern. Wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, werden alle Gefühle, auch die zärtlichsten, unecht, so wie die ernsthaftesten Ideen sich ins Groteske verwandeln. Émilie wurde fordernder, ja bei aller Zärtlichkeit sogar härter; Henry fühlte sich von Tag zu Tag mehr von ihr dominiert; sie gab ihm Befehle und er gehorchte und überliess sich lustvoll den Händen dieser Frau, deren Liebe ihn jeden Tag machtvoller vereinnahmte gleich einer Eroberung.
    Sie ersetzte für ihn jede Zuneigung und jedes Gefühl: sie sorgte für ihn, kleidete ihn, bestimmte die Frisur seiner Haare und wählte die Farben seiner Kleidung aus, so wie eine Mutter es für ihren jungen Sohn tut; sie gab ihm Ratschläge und überwachte ihn wie ein Vater, und er anvertraute ihr seine Vorhaben und Erwartungen wie einem Freund. Sie hielt ihn dazu an, eine gerade Linie zu verfolgen und möglichst schnell seinen Weg in der Welt zu machen.
    Wenn er aus dem Haus ging, musste sie ihm die genaue Uhrzeit sagen, zu der er zurück sein sollte, und wenn er sich etwas verspätete, stand sie Todes- ängste durch, dass er vielleicht von einem Fahrzeug angefahren, von einem tollwütigen Hund angefallen worden wäre oder beim Überqueren einer Brücke ertrunken wäre.

    Manchmal, wenn Henry gegen Morgen neben ihr vor Müdigkeit einge- schlafen war, erschreckte sie plötzlich die Reglosigkeit in seinem schlafenden Gesicht so sehr, dass sie sich über seine Nasenlöcher beugte, um seinen Atem zu hören. Sie hatte Angst, er könnte tot sein. Dieser Gedanke verfolgte sie häufig:
  – Wenn du von mir gingest, sagte sie, wenn du krank würdest, wenn du sterben würdest, was wird dann aus mir?
    Als sie eines Tages bei einem gemeinsamen Spaziergang an einem Friedhof vorbeikamen, begann sie zu weinen.
    Die Frauen mögen den Tod nicht; die tiefe Liebe zum Nichts, die den Dichtern unserer heutigen Zeit in den Eingeweiden steckt, erschreckt sie; das Wesen, das Leben hervorbringt, ist von dem Gedanken aufgebracht, dass das Leben nicht ewig dauert. Sagt ihnen nichts davon, dass ihr die eingefallenen Augenhöhlen vergilbter Schädel und die begrünten Gräberfelder liebt; sagt ihnen nichts davon, dass ihr eine starke Anziehung zur Rückkehr in das Unbekannte, in das Unendliche in euch habt, gleich dem Wassertropfen, der verdunstet, um in den Ozean zurückzufallen; sagt ihnen, oh ihr Denker mit der blassen Stirn, nicht, sie möchten euch auf eurer Reise begleiten, noch mit euch den Berg besteigen, denn ihnen fehlt der sichere Blick, um die Abgründe eines Gedankens zu ermessen, noch eine hinreichend weite Brust, um die Höhenluft zu atmen. Doch das war es nicht, was Henry von ihr verlangte, noch weniger das, was sie von Henry verlangte.
    Sie verlangte von ihm, sich nicht mehr mit Morel zu treffen, denn Morel war ein Mensch, den sie verabscheute; er lachte fortwährend und machte sich über alles lustig; sie verlangte von ihm, keine Vorführungen mehr zu besuchen, nicht mehr allzu lange aus dem Haus wegzubleiben, nicht mehr zu tanzen, wenn getanzt wurde – denn er hatte tanzen gelernt –, und zu erklären, er sei krank oder zu müde, und neben ihr sitzenzubleiben.