Wie geht es nun weiter?
Was soll es werden, entwickelt sich das blosse Lesen, begonnen als ein Anlauf zu einer Wiederaufnahme nach
vielen Jahren Pause, zu einem Schreib-Projekt, einer Art selbstgestellter Schulaufgabe oder Seminararbeit, einem
Leistungsnachweis wie in einem Kurs über Deutsche Literatur: "Geben Sie den Inhalt des Romans
wieder und charakterisieren Sie die gesellschaftlichen Verhältnisse und den Zeitgeist der Epoche, den er
widerspiegelt"?
Da kommen mir zwiespältige Erinnerungen an die Schulzeit: Werke, deren Lektüre uns als Aufgabe
gegeben wurden und deren Titel mir nach und nach wieder einfallen, wie in Französisch von Alphonse Daudet Tartarin de Tarascon, von Prosper Mérimée Matteo Falcone, von Balzac
die Eugénie Grandet, ich meine auch La Chartreuse de Parme von Stendhal,
sowie de Saint-Exupérys Vol de Nuit, jeweils in gekürzten Schulausgaben. Jedenfalls
hatte ich gegen dieses pflichtmässige Lesen einen Widerwillen und drückte mich häufig davor. Und die
Lektüre im Deutschunterricht? Da habe ich nur noch nebulöse Erinnerungen, vor allem an Dramen wie den Faust, die Iphigenie, Lessings Minna von Barnhelm und
natürlich Nathan der Weise, Schillers Wallenstein ("...eng im Raume stossen
sich die Sachen") – Die Räuber und Wilhelm Tell nicht zu vergessen!
– oder Brechts Der gute Mensch von Setschuan. Ja und von Goethe Wilhelm
Meister, die Lehr- und Wanderjahre, meine ich. Und natürlich Die Leiden
des Jungen Werther, dass mir das nicht zuallererst eingefallen ist! Dann Kleist: ausser Dramen,
Der zerbrochene Krug, Der Prinz von Homburg auch eine Erzählung, den
Michael Kohlhaas – weitere, Die Marquise von O., Die Verlobung in
St.Domingo u.a., habe ich erst später gelesen.
An eine Lektüre im Englisch-Unterricht kommt mir wieder die Erinnerung: ein Roman von Chr.Isherwood, der
Titel fällt mir jetzt nicht ein (ich könnte ihn leicht im Internet recherchieren), der im Berlin der
Wilden Zwanziger Jahre mit den beginnenden Strassenkrawallen der Nationalsozialisten spielt und der als Vorlage
für den Film Cabaret gedient hat. Ich bekam ein Exemplar vom Englisch-Lehrer und musste vor
der Klasse den Inhalt wiedergeben; ich weiss nicht mehr, wie ich mich aus der Affäre gezogen habe, vermutlich
mehr schlecht als recht wie gewöhnlich, wenn ich – auch später in Seminaren während des Studiums
– vor einer Zuhörerschaft sprechen musste.
Die Literatur, die von diesen turbulenten, überdrehten Jahren vorzugsweise in Berlin handelte, von der
auf mich, der die Jugend in einer westdeutschen Klein- stadt verbrachte, ein Reiz ausging, gleichzeitig aber auch
etwas Beunruhigendes – eine Mischung aus diffuser Angst, in der Grossstadt mit den Unsicherheiten, den
existenziellen Bedrohungen nicht bestehen zu können, und einem Gefühl von Erleichterung, dass ich nicht zu der Zeit
gelebt habe und dies alles nicht meine Wirklichkeit, sondern nur Fiktion war –, das waren die Romane von
Hans Fallada Kleiner Mann, was nun, von Vicki Baum Menschen im Hotel, von
Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz. Die Stadt, in die ich wenige Jahre später als
Student kam, war eine andere, es war das von einer Mauer geteilte Berlin.