Eine Suche nach der verlorenen Zeit. Kann ich aber von dieser Schulzeit, in der ich, was
die Schule betraf, nur halb bei der Sache war (wo war die andere Hälfte, was war mein wahres Ich?), als von
einer Verlorenen Zeit sprechen?
Eine Abschweifung zu Proust: Von seiner Recherche ist mir ein vages Gefühl des
Ungenügens geblieben, es nur, das war Jahre später, auf etwa zwei Bände gebracht zu haben;
ähnlich erging es mir mit Th.Manns Joseph-Roman, von dem ich, wenn ich mich recht
erinnere, höchstens zweihundert Seiten gelesen habe. Bei Musils Der Mann ohne Eigenschaften
hingegen hatte ich, wohl nachdem aufgrund einer gewissen Erschöpfung die Spannung weg war, nach etwa
eintausend Seiten das Gefühl, guten Gewissens (Banause?) darauf verzichten zu können, bis "zu Ende"
zu lesen, da der Roman ja offenbar Fragment war.
Was macht Corona mit mir! Nun bin ich bei der "Suche nach der verlorenen Zeit" wie schon neulich bei meinen
Lektüre-Erinnerungen wieder bei meiner Schulzeit angelangt. Ein Herumstochern im Nebel: ernüchternd, so
vieles vergessen zu haben. Kafka, das war eine andere Geschichte, auf die möchte ich hier nicht eingehen:
Klammer zu.
Nein, nicht Klammer zu – Klammer wieder auf: an der Erinnerung an die Kafka-Lektüre, an meinen
Abituraufsatz über seine Erzählung Auf der Galerie, an die Beachtung, die er im
Lehrerkollegium fand, komme ich nicht vorbei. Die Kunstreiterin als Parabel für Kafkas Auffassung von seinem
Künstlertum (aus heutiger Sicht; was ich damals ausgeführt habe, weiss ich nicht mehr), sein Blick
von der Galerie auf ihren glanzvollen, blendenden Auftritt: das erhebende Gefühl der Illusion –
Äusserungen von Selbstgenuss nach Abschluss eines Werks finden sich in seinem Tagebuch, das ich damals
noch nicht kannte –, demgegenüber die desillusionierende Kehrseite, in der Erzählung konkretisiert
in der Schinderei, der unbedingten Unterwerfung der Kunstreiterin unter den Willen des Impresarios, die
masochistische Züge hat, als Voraussetzung. In der Übersetzung heisst das: nach Kafkas
Selbstverständnis wird die Schaffung eines Werks letztlich durch den Verzicht auf Leben erkauft; eine
vielzitierte Stelle in seinem Tagebuch lautet: Ich könnte leben und lebe nicht.
Jahre später bin ich, möglicherweise durch die Lektüre von A.Camus' Mythos
von Sisyphos, in dem dieser auch Kafka ein Kapitel widmet, und durch die Erin- nerung an die Faszination,
ja Besessenheit von ihm in meiner Schulzeit und die damals erfahrene Anerkennung dazu angeregt, auf ihn
zurückgekommen. Ich nahm die Fährte der autobiografischen Verschlüsselungen (im
Urteil), der Mystifi- kationen (Beispiel: Die Verwandlung) und Paradoxien (unter anderem
in Vor dem Gesetz – ihnen verdanken wir wohl den Begriff kafkaesk !?)
wieder auf und begann, mich intensiv mit ihm zu beschäftigten. Ich las alles, was ich mir von ihm und über
ihn beschaffen konnte, von den Romanen (u.a. Der Prozess) auch Das Schloss in
einer textkritischen Ausgabe mit den von ihm gestrichenen Passagen, sämtliche, darunter die erst lange nach
seinem Tod veröffentlichten Erzählungen, Fragmente, die Tagebücher sowie die Briefe, an Felice,
Milena, die Schwester Ottla, aber auch seine Beiträge zum Arbeitsschutz, die er für die
Unfall-Versiche- rungsgesellschaft verfasst hat, bei der er angestellt war; darüber hinaus Biogra- fien,
Essays, Interpretationen, Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen sowie einiges von und über
Max Brod.