Es ist kurz vor Weihnachten; vor drei Tagen wurde der erneute Lock-down angeordnet. Doch es ist nicht
dasselbe wie im Frühjahr, logischerweise. Der Ausnahmezustand der ersten Wochen war im Lauf des Sommers zu
einer annähernden Normalität geworden, der nur einige der von früher gewohnten Zutaten abhanden
gekommem waren wie die kulturellen Anregungen, Theater, Konzerte, Kino (für mich bedeutungslos). Was mich
jedoch traf, war die Unmöglichkeit zu verreisen. Auch wenn es überhaupt fraglich gewesen wäre,
angesichts meiner Zweifel, ob ich mir eine Wanderung wie die des letzten Jahres, im Frühjahr in Italien, im
Spätsommer in Südfrankreich, noch einmal zutrauen kann, ich hätte mich aber sicherlich wie in den
vergangenen Jahren mit dem Plänemachen, dem Studieren von Wanderkarten und Austüfteln von Wander- routen
geistig lebendig gehalten. All das, was auch zum Vorphantasieren anregt und die Erwartung
steigert, fällt, da es nicht so aussieht, dass die Lage im nächsten Jahr eine wesentlich andere sein
wird, auch für das kommende Frühjahr weg.
Ja einiges ist diesmal anders, angefangen mit der Jahreszeit. Bei der Reali- sierung meines Vorhabens zur
Krisenbewältigung im Frühjahr: dem Lese-Projekt, mit dem ich nach zwanzig Jahren, in denen es nur noch
selten vorgekommem war, an die Zeit des Viel-Lesens wieder anzuknüpfen versuchte, spielte das Wetter eine
wichtige Rolle; es "spielte mit". Ich konnte mich an warmen Tagen mit Fontanes Stechlin in den
Tiergarten setzen und stellte eine Kurzfassung des Inhalts her. Danach nahm ich mir noch Effi Briest
vor (ich war mir gar nicht sicher, ob ich es früher überhaupt schon gelesen habe) und irgendwann auch
Unterm Birnbaum; weiterhin Balzacs Vetter Pons, der als Goldmann-Taschenbuch
ebenfalls, wie auch die Fontane-Bände, über zwanzig Jahre ungelesen im Bücherregal gestanden hatte.
Danach dachte ich immer mal wieder daran, die Lektüre mit dem einen oder anderen Balzac-Roman, mit dem Vater Goriot oder mit La Peau de Chagrin, fortzusetzen, wozu ich aber, um sie mir
zu besorgen, eventuell antiquarisch, in Läden hätte nachfragen müssen; dazu ist es nicht mehr
gekommen, zuviel Mühe, anscheinend war "die Luft raus", wozu das Wegfallen des Anreizes durch das schöne
warme Sommerwetter sicherlich beigetragen hat.
Von der Lektüre des Stechlin und der Effi Briest habe ich mich zu
diesen beiden Gedichten anregen lassen, von denen das zweite vielleicht den strengen Regeln entsprechend als "echter"
Limerick gelten kann:
In die Apotheke am Marktplatz von Neuruppin
kam von Bauchgrimmen genervt der Alte Stechlin.
Leider
in seinen alten Tagen
ihn so manche Zipperlein plagen;
Ach, gäbe es doch für alles die
richtige Medizin!
Die Zeit stand fast still im beschaulichen Jüterbog,
bis Steffi Priest gelangweilt ihren Gatten
betrog.
Der Gehörnte, in masslosem Zorn
ergriff sein Gewehr mit Kimme und Korn,
zum Finale,
bei dem der Rivale den Kürzeren zog!