" Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann. –
Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht
beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche
Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeu- tungen auflösen
solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit
für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich
beim Ich selbst angelangt..."
Mit dem vorangegangenen Retro-Rückblick auf den Mai 1968 war auch ich tatsächlich bei mir selbst
angelangt; es ist ein Stück der eigenen Vergangenheit, die ich aus meiner Erinnerungskiste hervorgeholt habe:
den Band mit gesam- melten Wandparolen, dem ich die Sprüche entnommen habe, hatte mir nämlich meine erste
Freundin damals geschenkt. Wir hatten uns bei einem Urlaub in einer Jugendherberge in der Bretagne kennengelernt,
wohin sie nach den Mai-Unruhen, die sie als Studentin in Lille miterlebt hatte, gekommen war. C. war zwanzig, kam
aus dem nordfranzösischen Kohlerevier – ihr Vater war Bergmann; ihr Fach war Deutsch, woraus
sich eine Motivation für einen Aufenthalt in Deutschland, bei dem sie auch ihre Sprachkenntnisse verbessern
konnte, ergab. Für unsere gemeinsame Zeit bedeutete es, dass sie von vornherein mit einem Ende versehen war;
unsere Beziehung dauerte zwei Jahre. Ich habe später noch erfahren, dass C. ihr Studium als Lehrerin
abgeschlossen hatte und an einer Schule unterrichtete.
Einmal sind wir in den Semesterferien von Lille aus zusammen an die Kanalküste bei Boulogne gefahren.
Wir sind an einem langen Strand entlang- gelaufen und auf einen der Betonklötze geklettert, die sich aus dem
Sand auftürmten, eine deutsche Hinterlassenschaft aus dem Zweiten Weltkrieg, Über- bleibsel der Befestigungen
des "Atlantikwalls". Dieses Ungetüm erscheint mir heute als Sinnbild für jenes Unbekannte, Widerspenstige,
Unbeherrschbare in den Beziehungen der Geschlechter – eine Art Black Box, " Der
Andere, das unbekannte Wesen" –, in das wir uns mit unseren recht ungenauen Vorstel- lungen und Erwartungen
vortasteten, wobei in dem Alter, in dem bei diesen ersten sexuellen Beziehungs-Erfahrungen das Hauptgewicht auf
dem Sich-Ausprobieren liegt und die Wahl des Partners mehr oder weniger beliebig sein kann, wobei es nicht so sehr
darauf ankommt, was für ein Mensch der Andere wirklich ist, wie charakterlich gefestigt er ist, salopp
gesprochen: "Hauptsache, die Chemie stimmt", vieles noch teilweise unerschlossen, also unterhalb des Möglichen
bleibt.
Unsere Perspektiven waren offensichtlich nicht zusammenzubringen, ihre lag in Frankreich; jeder war für
den Anderen auch Mittel zum Zweck, und dieser war erfüllt, als sie dorthin zurückkehrte. C. begann sehr
bald wieder eine Beziehung, nicht nur das, sie und ihr neuer Partner heirateten. Einmal hatte sie geäussert
– wir lasen von der Psychoanalytikerin Helene Deutsch Die Psychologie der Frau (ihre
These kurzgefasst: Kompensatorische Umwandlung des Penisneides in einen Kinderwunsch) –, dass sie später
einmal Kinder haben wolle; und dass sie ihren Mann verlassen werde, wenn er dazu nicht bereit wäre.
Tatsächlich hat sie sich wieder von ihm getrennt.