Nach Corona –  Weitermachen  


    " Niemand wusste genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm passte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen...  Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloss- alleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krank- heit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, mensch- lichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis... Diese Illusion, die ihre Verkör- perung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, dass sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenutzte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Haus gehen liessen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne dass sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten."

    " Von Moosbrugger hatte ihr Ulrich erzählt.
   Clarisse nagte an der Wurzel der Liebe. Zwiespältig ist sie, mit Kuss und Biss, mit Aneinanderhängen der Blicke und Wegdrehen des Auges im letzten Augen- blick. "Drängt das Miteinanderauskommen zum Hass?" fragte sie sich. "Will das anständige Leben die Roheit? Bedarf das Friedliche der Grausamkeit? Verlangt die Ordnung nach Zerrissenwerden?" Das war es, und war es nicht, was Moosbrugger erregte. Unter dem Donner der Musik schwebte ein Weltbrand um sie, ein noch nicht ausgebrochener Weltbrand; innerlich am Gebälk fressend."
    " Es scheint, dass der brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernst nimmt. Als Kind kriecht er unter den Tisch, um das Zimmer der Eltern, wenn sie nicht zu Hause sind, durch diesen einfachen Trick abenteuerlich zu machen; er sehnt sich als Knabe nach der Uhr; als Jüngling mit der goldenen Uhr nach der zu ihr passenden Frau; als Mann mit Uhr und Frau nach der gehobenen Stellung; und wenn er glücklich diesen kleinen Kreis von Wünschen zustande gebracht hat und ruhig darin hin und her schwingt wie ein Pendel, scheint sich dennoch sein Vorrat unbefriedigter Träume um nichts verringert zu haben. Denn wenn er sich erheben will, so gebraucht er dann ein Gleichnis. Offenbar weil ihm Schnee zuweilen unangenehm ist, vergleicht er ihn mit schimmernden Frauenbrüsten, und sobald die Brüste seiner Frau ihn zu langweilen beginnen, vergleicht er sie mit schimmerndem Schnee... Er ist imstande, alles zu allem zu machen – Schnee zu Haut, Haut zu Blüten, Blüten zu Zucker, Zucker zu Puder, und Puder wieder zu Schneegeriesel –, denn es kommt ihm anscheinend nur darauf an, etwas zu dem zu machen, was es nicht ist, was wohl ein Beweis dafür ist, dass er es nirgends lange aushält, wo immer er sich befindet."