Corona-Krise  –  Die zweite Auflage 


     Zwei Jahre später: Was mir bis vor drei Wochen nicht in den Sinn gekommen wäre, so fern hatte mir der Gedanke gelegen: ich lese noch einmal – nach wievielen Jahren? ca. vierzig? – Musils Mann ohne Eigenschaften.
  Wie es dazu kam: Der Roman, an die ein Kilo schwer, fiel mir buchstäblich in den Schoss, beziehungsweise ich las ihn, ohne das übliche "zu verschenken" auf einem Mauervorsprung abgelegt, beim Entlanglaufen auf einem Bürgersteig auf, ein solcher dicker Wälzer erregte meine Neugier, und der ockerfarbene Leinen- einband kam mir wohl irgendwie bekannt vor und hat wohl auch schon eine gewisse Ahnung in mir geweckt, die dann durch die Initialien MR/RM auf dem Buchdeckel bestätigt wurde – tatsächlich hatte ich mir nicht vorstellen können, dass jemand sich eines nach meinem Empfinden aussergewöhnlichen Werkes auf diese äusserst gewöhnliche Weise entledigt. Es hätte mich weniger überrascht, wenn ich den Band bei einem Antiquar entdeckt hätte.

    " Stösst man bei einer dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit, so lässt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andere Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein andrer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird wie durch die Anmassung, dass man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen...."

    " Das damals zu Grabe gegangene [Jahrhundert] hatte sich in seiner zweiten Hälfte nicht gerade ausgezeichnet. Es war klug im Technischen, Kaufmännischen und in der Forschung gewesen, aber ausserhalb dieser Brennpunkte seiner Energie war es still und verlogen wie ein Sumpf. Es hatte gemalt wie die Alten, gedichtet wie Goethe und Schiller und seine Häuser im Stil der Gotik und Renaissance gebaut. Die Forderung des Idealen waltete in der Art eines Polizeipräsidiums über allen Äusserungen des Lebens. Aber vermöge jenes geheimen Gesetzes, das dem Menschen keine Nachahmung erlaubt, ohne sie mit einer Übertreibung zu verknüpfen, wurde damals alles so kunstgerecht gemacht, wie es die bewunderten Vorbilder nie zustandegebracht hätten, wovon man ja noch heute die Spuren in den Strassen und Museen sehen kann, und, ob das nun damit zusammenhängt oder nicht, die ebenso keuschen wie scheuen Frauen jener Zeit mussten Kleider von den Ohren bis zum Erdboden tragen, aber einen schwellenden Busen und ein üppiges Gesäss aufweisen. Im Übrigen kennt man von keiner gewesenen Zeit so wenig wie von solchen drei bis fünf Jahrzehnten, die zwischen dem eigenen zwanzigsten Jahr und dem zwanzigsten Lebensjahr der Väter liegen. Es kann deshalb nützen, sich auch daran erinnern zu lassen, dass in schlechten Zeiten die schrecklichsten Häuser und Gedichte nach genau ebenso schönen Grundsätzen gemacht werden wie in den besten; dass alle Leute, die daran beteiligt sind, die Erfolge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören, das Gefühl haben, sie zu verbessern; und dass sich die blutlosen jungen Leute einer solchen Zeit auf ihr junges Blut genau so viel einbilden wie die neuen Leute in allen anderen Zeiten."
    " Und es ist jedesmal wie ein Wunder, wenn nach einer solchen flach dahin- sinkenden Zeit plötzlich ein kleiner Anstieg der Seele kommt, wie es damals geschah. Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben."