Seinesgleichen geschieht ... – Ich bin auf Seite 366 angelangt –
... oder warum erfindet man nicht Geschichte?
" War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg
war, er wusste es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflug war wieder gehoben
worden; eine stolze Sache... Der Präsident von Frankreich fuhr nach Russland; man sprach von Gefährdung
des Weltfriedens. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heim- gesucht; die armen Japaner. Mit einem Wort, es
geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf
Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregung gehabt... Welche sonderbare Angelegenheit
ist doch die Geschichte! Es liess sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, dass es seinen Platz
in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt
stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, dass etwas in einem
bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, dass es selbst
stattfindet und nicht am Ende bloss etwas Ähnliches oder seinesgleichen."
Geschichte neu erfinden!? – ein faszinierender Gedanke, dem sich schon
so manche hingegeben haben:
Was wäre, wenn... die Varusschlacht nicht stattgefunden hätte und die Ger- manen von den Römern
"ins Reich geholt" worden wären wie die Gallier und die Briten? Zumindest eins gäbe es mit Sicherheit heute
nicht: das scheussliche Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald wäre uns erspart geblieben; und abge- sehen davon?
Reine Spekulation, wie diese: unter einer römischen Herrschaft wären die Eigenheiten der Stämme, der
Sachsen, Franken, Alemannen, Baiern, später die Grundlage des deutschen Föderalismus, aber auch für die
Zerrissen- heit und deren Resultat, die Kleinstaaterei und die verhinderte Entstehung eines Einheitsstaates, nivelliert
worden. Aber ob die Nord-Süd-Polarisation, die sich seit den konkurrierenden Staufer- und Sachsen-Kaisern, dann
auch als Gegen- satz zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden, wobei keine Seite (im
Dreissigjährigen Krieg!) die Oberhand erringen konnte, durch die deutsche Geschichte zieht, dann im 19.Jahrhundert,
als erst die Machtfrage zwischen Preussen und Österreich geklärt werden musste, nicht entstanden wäre, so
dass es früher zur Bildung eines Zentralstaates hätte kommen können ähnlich wie in Frankreich unter
der Monarchie, dort eine Voraussetzung für die erfolgreiche Revolution?
Eine weitere beliebte Spekulation: Wenn Napoleon in der Schlacht bei Waterloo gesiegt hätte...
Oder, unverändert aktuell: wenn das Hitler-Attentat vom 20.Juli geglückt wäre.
Hätte der Tod Hitlers tatsächlich zu einer schnellen Beendigung des Krieges geführt, wie eine gern
gehegte retrospektive Wunschvorstellung uns suggeriert? Denn schliesslich war die Bedingung der Alliierten, das Unconditional Surrender, unumstösslich; war aber ein Befehl an die Wehrmacht zur vollständigen
Einstel- lung der Kämpfe durchzusetzen? im Westen wohl eher – aber an der Ostfront?
dass sich die Wehrmacht zurückgezogen (ja wohin? hinter die Oder?) und kampflos die Roten Armee auf Berlin
marschieren lassen hätte!? Sehr unwahr- scheinlich (nebenbei: ohne die totale militärische Niederlage
wäre mit aller Wahrscheinlichkeit eine neue Dolchstosslegende entstanden). Allerdings hätte eine
Verkürzung des Krieges nur um einige Wochen sicherlich zehntausenden Soldaten (und eine Einstellung der
Bombardierungen auch Zivilisten) das Leben gerettet.