Nach Corona –  Weitermachen  


    " Es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, dass der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phonogramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen- gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, dass man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so dass wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben."
    " Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten... Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zu- neigung und Abneigung besteht; zunächst reissen Bewunderer grosse Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schlechten Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen passt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem kein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und, wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Hass und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muss, damit jeder zum Seinen kommt."

    " Tatsächlich tat er [Arnheim] damit eben das, was alle die vielen und die Mehrzahl der Gebildeten ausmachenden Menschen tun, die nach dem Eintreten ins Erwerbsleben ihre früheren Interessen nicht ganz verleugnen wollen, ja jetzt erst ein ruhiges, reifes Verhältnis zu den schwärmerischen Antrieben ihrer Jugend finden. Die Entdeckung des grossen Gedichtes des Lebens, an dem sie sich mitarbeiten wisssen, schenkt ihnen den Mut des Dilettanten wieder, den sie zu der Zeit, wo sie ihre eigenen Gedichte verbrannten, verloren hatten; sie dürfen sich, am Leben dichtend, wahrhaft als geborene Fachleute ansehen und gehen daran, ihr tägliches Tun mit geistiger Verantwortung zu durchdringen, fühlen sich vor tausend kleine Entscheidungen gestellt, damit es sittlich und schön sei, nehmen sich an der Vorstellung ein Muster, dass Goethe so gelebt habe, und erklären, dass sie ohne Musik, ohne Natur, ohne Betrachtung des unschuldigen Spiels von Kindern und Tieren und ohne ein gutes Buch das Leben nicht freuen würde. Dieser durchseelte Mittelstand ist unter Deutschen noch immer der Hauptkonsument der Künste und aller nicht zu schwierigen Literatur, aber seine Mitglieder sehen auf Kunst und Literatur, die ihnen früher als Vollendung ihrer Wünsche vorgekommen war, begreiflicherweise und wenigstens mit einem Auge so herab wie auf eine Frühstufe – wenn diese auch in ihrer Art vollendeter ist, als es ihnen gegönnt war,– oder sie halten davon, was etwa ein Eisenblechfabrikant von einem Gipsfigurenbildhauer halten müsste, wenn er die Schwäche besässe, dessen Produkte schön zu finden."