Die erste Éducation Sentimentale

  Neunzehntes Kapitel

    Es war an einem Abend im Sommer. Mme Renaud, die den ganzen Tag recht lustlos gewesen war und sich nun nachlässig und schweigsam im Sessel ihres Gatten niedergelassen hatte, schien ganz und gar in ihre Gedanken versunken zu sein; der Vater Renaud hingegen, der beim Essen die ganze Zeit ziemlich gutgelaunt war, sass mit heiterer Miene und roten Backen am Fenster und atmete die Luft ein, um die Verdauung anzuregen; Henry, der ihm gegenüber sass, betrachtete Mme Émilie aus dem Augenwinkel, niemand sprach etwas, das Wetter war schön und die Sonne ging hinter den Türmen von Saint-Sulpice unter. Schliesslich nahm der Vater Renaud seinen Hut.
  – Sie gehen aus? sagte Mme Renaud.
  – Ja, meine Liebe.
  – Ah! Sie gehen aus, wiederholte Mme Renaud langsam; sehr schön! Und wohin gehen Sie?
  – Wohin ich gehe? wiederholte der Gatte erstaunt:
  – Ja, wohin gehen Sie? Sieh an, Sie suchen ein wenig nach einer Entschuldi- gung, machen zweifellos Ihre Runde? eine Runde, die drei Stunden dauert, die Zeit, um zur Rue Saint-Honoré zu gehen, da zu bleiben und dann zurück- zukehren – die Rue Saint-Honoré war die Strasse, in der Mme Lenoir wohnte.
  – Nur zu, antworten Sie, verschweigen Sie nichts, dahin wollen Sie doch gehen?
  – Aber denkst du das, was du da redest?
  – Oh! ganz sicher, ebenso wie Sie an das, was Sie vorhaben; aber beeilen Sie sich, man erwartet Sie.
  – Das ist wahr, es ist höchste Zeit, fuhr der Vater Renaud unbedacht fort, vielleicht sogar...
  – Ah! was für eine Unverschämtheit, rief Mme Renaud rot vor Wut aus; es mir ins Gesicht zu gestehen! es mir ganz laut zu sagen! Sie haben es gehört, Monsieur Henry, er geht zu ihr, er verbirgt es nicht einmal, er spricht es aus und brüstet sich damit!
  – Zu wem? fragte der Vater Renaud.
  – Es fehlt nur noch, dass Sie mich zwingen, ihren Namen zu nennen
  – Welchen Namen?
  – Welchen Namen? wiederholte Mme Renaud; ihren Namen doch, den Namen den Sie lieben.
  Und sie verbarg den Kopf im Sessel, wobei sie ihren Körper verdrehte wie jemand, der sich unter Krämpfen windet.
  – Aber, meine liebe Freundin...
  – Oh! schwören Sie nicht!
  – Der Teufel soll mich holen, wenn...
  – Ja, lügen Sie, lügen Sie, setzen Sie zur Schamlosigkeit die Unwahrheit hinzu, häufen Sie Schmach auf Schmach, genieren Sie sich nicht, mein Herr, ich kenne Sie, mich überrascht nichts mehr, ich bin auf alles gefasst, ich werde meine Pflicht bis zum Ende erfüllen, ich werde den Kelch austrinken bis zur Neige, bis zu meinem Tod.
  – Aber, in Wahrheit... aber ich verstehe dich nicht... was ist denn los?
  – Habt Geduld, es wird nicht mehr lange dauern, Sie werden bald frei sein; bald wird die arme Frau nicht mehr sein, und dann, aller Hindernisse zu Ihren Leidenschaften ledig...