JP Sartres Âge de Raison


    Mathieu hat sich für die Zukunft Ivichs etwas ausgedacht, das ihr ermöglichen würde, weiterhin in Paris in seiner Nähe zu leben. Er macht ihr den Vorschlag, sie finanziell zu unterstützen, über die Sommerferien werde er etwas Geld sparen. Zunächst weist sie diese Idee entschieden zurück, will wissen, aus welchen Motiven er es tun würde. Als er ihr versichert, dass es nicht aus Mitleid wäre, sondern aus purem Egoismus, dass er sie in seiner Nähe haben möchte, ist sie nicht mehr ganz abgeneigt, seine Hilfe anzunehmen, so brauche sie ihm jedenfalls nicht dankbar zu sein.
    Es klingelt an der Tür, es ist Sarah, die von Mathieus Anruf unterrichtet wurde und gleich zu ihm geeilt ist. Sie hat ihm nur das eine mitzuteilen, dass sie nichts ausrichten konnte, der Arzt bleibe dabei, dass die fragliche Person, d.h. Marcelle, am nächsten Morgen mit der geforderten Summe erscheinen müsse; es tue ihr leid, sie habe ihr Möglichstes getan. Mathieu antwortet trocken: Gut, reden wir nicht mehr davon. Sarah setzt dann doch erklärend hinzu, da die Person keine Jüdin sei, gebe er keinen Kredit, nach allem, was man ihnen angetan habe. Er habe ihr von den Leiden der Wiener Juden berichtet, von den Verfolgungen und den Konzentrationslagern in Oesterreich nach dem "Anschluss". Sie habe es nicht glauben wollen. Und mit erstickter Stimme setzt sie hinzu: " Es ist ein Martyrium."
    Als sie gegangen ist, eröffnet Mathieu Ivich, er werde Marcelle heiraten, sie sei schwanger. Sie entgegnet kühl: "Warum erzählen Sie mir das?" Sie erhebt sich, sie müsse noch ihre Koffer packen. Nachdem sie sich Auf Wiedersehen gesagt haben, setzt Mathieu noch hinzu: "Sehen wir uns im Oktober?" Ivich reagiert heftig: "Im Oktober! Aber nein!" Er packt sie am Arm, woraufhin sie sich mit einem Aufschrei losreisst: "Fassen Sie mich nicht an! Gestern früh, als Sie mich gepackt haben, habe ich mir gesagt: Das sind die Manieren eines verheira- teten Mannes." Hochrot vor Zorn steht sie vor ihm. "Es reicht, ich habe verstanden", sagt er grob, stürmt zur Tür und verlässt die Wohnung.
    Mathieu läuft besinnungslos durch die Strassen. Ein Auto fährt ihn fast um; er springt zur Seite und stürzt zu Boden. Er hat Abschürfungen an einer Handfläche, und der Verband an der anderen ist beschmutzt. Nach einer Schrecksekunde bricht er in Lachen aus; er lacht über sich, über Marcelle, über Ivich, über sein Missgeschick, sein ganzes Leben. "Ich habe mich zu ernst genommen". Schleppend setzt er seinen Weg fort, seine Füsse tragen ihn mechanisch vorwärts, sein Körper bewegt sich automatisch. Er biegt in eine vertraute Strasse ein, und ein Gedanke schiesst ihm durch den Kopf: "Ich werde es mir holen". Augenblicklich ist er wie verwandelt. Er holt einen Schlüssel aus der Tasche, es ist der Schlüssel zu Lolas Geldkoffer.
    In Lolas Hotel gelingt es ihm, von der Concierge unbemerkt den Zimmer- schlüssel vom Schlüsselbrett zu nehmen. Er geht hinauf. Lolas Zimmer liegt im Dunkeln, ihr Bett ist ungemacht, und Kleidungsstücke hängen ordentlich über Stuhllehnen und am Kleiderhaken. Er kniet vor dem Koffer nieder und entnimmt genau fünf Scheine. Unten am Eingang kann er den Schlüssel hinter dem Rücken der Concierge wieder an das Brett zurückhängen.