Das Chagrinleder

Der Todeskampf


    Mit dem neuen Reichtum trat für Raphael eine grosse Veränderung in seinen Lebensverhältnissen ein, der nun, umgeben von der erlesenen Inneneinrichtung seiner palastähnlichen, mit allerlei technischen Rafinessen ausgestatteten Villa mit einem Innenhof, zurückgezogen mehr dahinvegetierte als lebte, von der Umwelt durch seinen alten Diener Jonathas abgeschottet, den er zu sich geholt hatte, als seinen Türsteher, als eine Art Zwischeninstanz, Vermögensverwalter und blinden Vollstrecker seines Willens. Alles am schmächtigen und gebrech- lichen Körper dieses jungen Mannes schien künstlich zu sein, gleich einem Automaten: er "entsagte dem Leben, um zu leben und versagte seiner Seele alle Poesie des Wünschens." Als Jonathas einmal einen Alten, ein früherer Lehrer des Marquis, vorliess, und Raphael sich genötigt sah, diesem bei einem Anliegen behilflich zu sein, hatte das sogleich eine Auswirkung auf den Talisman, der nun auf einem weissen Stoff, auf dem seine Umrisse mit einer roten Linie fest- gehalten waren, an der Wand hing: ein schmaler weisser Streifen zwischen der gezogenen Linie und dem Leder zeigte an, dass es erneut ein wenig geschrumpft war.
    Vom Diener Jonathas zu einem Theaterbesuch gedrängt, fuhr Raphael in seinem schlichten, aber eleganten Coupé mit dem alten Familienwappen an den Türen unter den neidischen Blicken der Menge am Théâtre Favart vor. Im Foyer begegnete er alten Bekannten: als erstem einem Greis, in dem er den Alten aus dem Antiquitätenladen, dem er sein Unglück verdankte, wiedererkannte, mit geschminktem Gesicht, das an groteske Holzschnitzereien deutscher Schäfer erinnerte. Dann entdeckte er die reizende, aber verdorbene Euphrasie an seiner Seite, die bewundernde Blicke und Komplimente empfing, während es dem Alten beissenden Spott eintrug. Er gestand Raphael, er habe das Leben früher verkehrt angefangen; er sei jetzt glücklich wie ein Jüngling.
    Dann bemerkte er Fœdora in einer Loge gegenüber; sie vollführte die Bewe- gungen einer Kokotte. die sich zur Schau stellt, und musterte die Umgebung, um sich zu vergewissern, dass sie die schönsten und elegantesten Frauen ausstach. Sie wurde blass, als sie seinem starrem Blick begegnete. Wie der Zufall bzw. Balzac es wollte, sass Raphael in seiner Loge dicht an dicht neben einer reizenden jungen Frau in der Nachbarloge, so dass ihre Rücken sich fast berührten; es war niemand anderes als Pauline. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Zu Hause angekommen rief er aus, er wünsche sich, von Pauline geliebt zu werden. Ein Blick auf das Leder gab ihm Gewissheit, da es sich nicht rührte; sein Wunsch war schon erfüllt und musste nicht mehr erfüllt werden!
    Er ging zu der früheren Pension der Madame Gaudin, diese war, nachdem ihr in Russland verschollener Mann zurückgekehrt und zu Ehren gekommen war, jetzt Baronin und vermögend geworden und in eine vornehmere Gegend gezogen. Doch das Mansardenzimmer gab es noch. Dort erwartete Pauline ihn, schon beim Hinaufsteigen hörte er die Klänge des Klaviers. Beide erkannten, dass der andere sie/ihn liebte, und vor Erregung brachten sie kein Wort hervor. Dann berichtete sie ihm, sie sei jetzt eine reiche Erbin, reich und glücklich. Sie umarmten und küssten sich, schwelgten wie in einem Taumel im Liebesglück.
    Raphael: Warum bist du reich? Ich kann nichts für dich tun. Er verkündete ihr, dass er sie zur Marquise de Valentin machen werde.