Er fasste einen verwegenen Plan: er wollte sich bei der Comtesse, wenn sie abends Gäste hatte, heimlich
über Nacht einschliessen lassen und so in ihr intim- stes Leben eindringen. An einem solchen Abend betrat er,
um ein Versteck vor- zubereiten, unbeobachtet das Schlafzimmer; er liess vor einer Fensternische die Vorhänge
herab und schnitt mit einem Messer Schlitze hinein. Spät in der Nacht versteckte er sich, von den noch
verbliebenen Gästen unbemerkt, hinter dem Vorhang. Eine Gruppe mit der Comtesse und Rastignac nahm noch
nebenan im Boudoir einen Tee ein, so dass er ihr Gespräch belauschen konnte, in dem Fœdora auch
über ihn und seine Geheimnisse spöttische Äusserungen machte. Sie opfert mich, dachte Raphael,
oder vielleicht liebt sie mich und versteckt ihre Neigung unter boshaften Scherzen. Als sie allein war, konnte
er sie mit einer klaren, reinen Stimme singen hören und durch die Schlitze im Vorhang beim Entkleiden und
Zu-Bett-Gehen auch beobachten, und als sie eingeschlafen war, trat er an ihr Bett und beugte sich über sie.
Dann verliess er die Gemächer unbemerkt durch eine Tapetentür und eilte über den Hof auf die Strasse.
Nach einer Lesung in ihrem Haus zwei Tage darauf bat er sie, einen Abend nur mit ihm allein zu verbringen.
Sie fürchtete, dass er sie immer noch mit seinem Begehren bedrängen würde, willigte dann aber doch
zu einem Treffen bei sich ein und liess ihn dicht neben sich auf einem Diwan Platz nehmen. Er ergriff ihre Hand, und
sie liess zu, dass er sie küsste; doch er begehrte nicht ihren Leib, er wollte sie mittels magnetischer Kraft
seelisch besitzen. Er gestand ihr seine Liebe und die Misshelligkeiten, die er ihretwegen erduldet habe, die Qualen
bei ihrem Spaziergang wegen des Mietwagens, der sein ganzes Vermögen gekostet habe, was sie recht amüsierte.
Seine Leidenschaft "ergoss sich in flammenden Worten, in gefühlvollen Ausbrüchen", sein Ton "glich dem
letzten Gebet eines Sterbenden auf dem Schlachtfeld". Als er ihr über die Nacht berichtete, in der er an ihrem
Bett gestanden hatte, war ihre Antwort ein verächtlicher Blick. Sie versicherte erneut, dass sie nie einem Mann
gehören werde, dass Kinder ihr lästig seien, dieser ganze Auftritt sei ihr peinlich. Sie verabschiedete
ihn mit beissender Ironie, worauf er sich erneut in Rage redete, er wolle Minister, Pair von Frankreich werden,
damit sie ihn zum Gemahl nähme; sie unterdrückte ein Gähnen.
In den nächsten Wochen stürzte er sich in Arbeit, er wollte sein Werk voll- enden. Als er
Rastignac wiedertraf, stellte der fest, wie abgemagert Raphael war. Ein Gesprächsthema war der Selbstmord:
"Wer unter uns Dreissigjährigen hätte sich nicht schon zwei- oder dreimal umgebracht?" Der Freund hielt
dagegen mit dem, was er sein "wüstes Leben" nannte: Schulden machen, spielen. Raphael gestand ihm seine
unüberwindliche Abneigung gegen Spielsäle, er solle doch seine 100 Taler, die ihm der Verleger für
die Auftragsarbeit gezahlt hatte, nehmen und sie aufs Spiel setzen; er werde bei ihm auf seine Rückkehr warten.
Er suchte ein letztes Mal sein Domizil auf, wo er nur Pauline antraf. Er be- zahlte seine
Miet-Rückstände und erklärte ihr, dass er sie verlassen werde, er bat aber, seine Kammer ein
halbes Jahr für ihn zu reservieren. Er drückte Pauline, die da stand wie das leibhaftige Gewissen und
traurig feststellte, dass es keine Klavierstunden mehr geben würde, an sich und gab ihr einen
brüderlichen Kuss auf die Stirn. Dann kehrte er in die Wohnung des Freundes zurück, es war die
Wohnung eines Liederjans, in dem sich "Üppigkeit und Elend ungeniert paarten", in dem eine unbeschreibliche
Unordnung herrschte, Ausdruck des "wüstes Lebens" seines Bewohners.