Die Wirtin, Madame Gaudin, deren Mann unter Napoleon als Grenadier der Kaiserlichen Garde am Russland-Feldzug
teilgenommen hatte und seitdem ver- schollen war, lebte mit ihrer Tochter zusammen, Pauline, einem Mädchen von
kindlicher Anmut; so anziehend er sie fand, so auferlegte Raphael sich doch, sie wie eine Schwester anzusehen. Die
Mutter erwies ihm bald kleine Dienste wie das Instandhalten seiner Wäsche, während Pauline des öfteren
mit leisen Schrit- ten sein Zimmer betrat und ihm seine bescheidene Mahlzeit brachte. Er schlug den beiden vor, dass
er Paulines Bildung vervollkommnen und sie unterrichten könnte, und so gab er ihr auch Klavierunterricht. Sie
erwies sich als so begabt, dass sie ihn bald übertraf. So reizvoll er Pauline fand, so war ihm doch klar, dass
er ein so einfaches, schlichtes Mädchen nie würde lieben können: die Frauen, die er in seinen
Phantasien begehrte, waren elegant, waren in Seide und Kaschmir gehüllt. Seine Liebe "verlangte seidene
Leitern, die in einem Schweigen einer Winternacht erklommen werden". Hätte Frankreich noch eine Königin
gehabt, dann hätte er unbedingt sie geliebt.
Im Dezember 1829 begegnete Raphael Rastignac – er war als Bekannter des Vater Goriot und Lucien de
Rubemprés (siehe Glanz und Elend der Kurtisanen) schon in Erscheinung getreten; er, der
Welterfahrung und ein Leben auf grossem Fuss verkörperte, pries dem ärmlich gekleideten jungen Mann
die Vorzüge der Verschwendung und bot ihm an, ihn in ein Haus einzuführen und ihn mit der Comtesse
Fœdora bekannt zu machen, die nach seinen Worten zur Zeit Mode war; ihre Beziehungen zu einflussreichen
Familien könnten für ihn von Nutzen sein. Sogleich brannte sich der Name dieser Frau, FŒDORA, einer
Pariserin und halben Russin von zweiundzwanzig Jahren, die alle Männer, die um sie warben, zurückgewiesen
hatte, in sein Hirn ein, und am Abend liess er sich zu dem verabredeten Ort fahren. Die Ausgaben für die
Droschke und für Handschuhe verschlangen die Summe für das Brot eines ganzen Monats.
Nachdem er von Rastignac der Comtesse vorgestellt worden war, führte dieser ihn durch die elegant
eingerichteten Räume, auch in ihr Schlafzimmer mit ihrem Bett unter einem Himmel aus weissem Musselin.
"Liegt nicht masslose Schamlosigkeit und Koketterie darin, uns diesen Liebesthron betrachten zu lassen? Sich
keinem hinzugeben und jedem zu gestatten, seine Karte hier abzu- geben?" Nach einem Gespräch mit ihr, in dem
er ihr seine Gedanken über den Willen darlegte, beobachtete er sie verstohlen, studierte ihre Haltung, wie
sie lässig, mit Schultern wie denen einer Statue aus Marmor, an die Täfelung gelehnt stand, und er kam
zu dem Schluss, dass sie aus zwei Frauen, vielleicht durch die Taille getrennt, bestand: die eine war kalt,
bestehend aus ihrem allein liebesfä- higen Kopf. Über diesen vom Verstand gesteuerten Teil wollte er
sie für sich ein- nehmen, und als er sie, bereits in heftiger Liebe zu ihr entbrannt, wieder auf- suchte,
begann er geistvolle Gespräche, die ihrer Eitelkeit schmeicheln sollten.
Bei weiteren Zusammenkünften schien sich zwischen ihnen eine Intimität zu entwickeln und das
Misstrauen, das in ihrem Wesen lag, allmählich zu schwin- den, dann aber war sie wiederum kalt und abweisend.
Einmal sagte sie einen vereinbarten Theaterbesuch wieder ab, und als er das Theater dennoch besuch- te, entdeckte
er sie dort, allein. Es folgte eine Aussprache, bei der sie deutlich wurde: es habe schon eine Reihe von Bewerbern
gegeben, darunter auch solche, die es auf ihr Vermögen abgesehen hätten, die sie alle abgewiesen habe,
und aus einem freundschaftlichen Gefühl ihm gegenüber spreche sie diese Warnung aus, er solle sich
keinerlei Hoffnungen machen, sie jemals zu besitzen.