In seliger Umarmung und unter Küssen gestand Pauline Raphael, dass sie die ganze Zeit zu seinem
Lebensunterhalt beigetragen hatte, indem sie bis zwei Uhr nachts Lampenschirme bemalte; wie leicht es doch sei,
Männer zu täuschen, wie hätte er von seinen drei Francs all seine Unkosten für Nahrung,
Wäsche usw. bestreiten können! Ob er frei sei, und als er es bejahte: dann gehöre er ganz ihr,
so wie sie ihm gehöre. "Nun mag der Tod kommen, denn ich habe gelebt!" Damit niemand mehr die Kammer
betreten konnte, wollten sie das Haus kaufen und die Mansarde zumauern lassen.
Zurück in seiner Wohnung fiel ihm das Chagrinleder wieder ein; ein Blick darauf bestätigte ihm,
dass es wieder ein wenig kleiner geworden war. Es mass nach und errechnete, dass ihm noch zwei Monate blieben.
In einem Wutanfall nahm er das Leder und warf es draussen in den Gärten in eine tiefen Brunnen.
Das Paar verbrachte eine glückliche Zeit miteinander, abends sah man es häufig in der Oper.
Eines Morgens, als man beim Frühstück zusammensass, brachte der Gärtner ein merkwürdiges Ding
herein, das er aus dem Brunnen hochgeholt hatte; es war das Chagrinleder, zusammengepresst und fest wie Holz.
Raphael erbleichte, als er den erneut geschrumpften Talisman erblickte. Er schickte Pauline, die verstört
sein verändertes Verhalten bemerkte, fort. Er wollte nicht glauben, dass es im Jahrhundert der Aufklärung
und der Wissenschaften ein solches Menetekel, wie es ihm zustiess, geben konnte, daher wollte er nun die Sache
von Gelehrten ergründen lassen.
Der erste Experte, an den er sich wandte, war Monsieur Lanville, ein Hohe- priester der Zoologie, dessen
Marotte es war, alle Arten von Enten, 137 an der Zahl, durchzunumerieren. Von dem Alten bekam Raphael die
Auskunft, dass es sich bei dem Talisman um die Haut eines Onager, equus asinus, eines seltenen
Esels, handele, der bekanntlich auch in der Heiligen Schrift erwähnt werde. Es folgen lange wissenschaftlich
anmutende Ausfürungen über die Eigenschaften dieses geheimnisvollen Tieres, seine ausserordentliche
Schnelligkeit sowie Spe- kulationen über die Herkunft des Namens der Haut, ob er sich vom türkischen
Chagri bzw. von Châagri herleite. Als die letzte Frage Raphaels, ob eine
solche Haut auch dehnbar sei, von Monsieur Lanville bejaht wurde, rief er aus, er habe sein Leben gerettet.
Er war zufrieden. "Ich werde meinen Esel im Zaume halten!"
Als nächsten suchte Raphael den Mathematiker Planchette auf, einen grossen und hageren, nachlässig
gekleideten Mann, einen jener erhabenen, auf der Suche nach Naturgesetzen in tiefe Betrachtungen versunkenen
Geister, die von manchen für verrückt gehalten werden. Nachdem er Raphael eine Einfüh- rung in die
Bewegung von Körpern gegeben hatte, erklärte er ihm, wie das Leder theoretisch beliebig vergrössert
werden könnte, nämlich indem man es zusam- menpresste, wobei es allerdings immer dünner würde.
Zur Demonstration führte er mit einem Experiment, das auf den grossen Blaise Pascal zurückgehen sollte,
vor, wie Wasser sich auf einer ebenen Fläche ausbreitet. Am nächsten Tag fuhren beide gemeinsam zu der
Werkshalle eines Deutschen, mit donnernden Eisenhämmern, mit Hebeln und Stangen und die Luft voller
Eisenspäne. Hier legte man das Leder zwischen die Platten einer hydraulischen Presse und setzte es grossem
Druck aus; es blieb heil, die Presse dagegen flog in Teilen aus- einander. In einem weiteren Versuch wurde es in
die Flammen eines Schmiede- feuers geworfen, doch es blieb kalt und geschmeidig. Für die herumstehenden
Männer stand nun fest, dass es etwas Teuflisches war, und sie flohen vor Entsetzen.