Das Chagrinleder


    Sie versicherte ihm, dass sie Männern, die von ihr abgewiesen worden seien, weiter freundschaftlich verbunden bleiben könne, so auch ihm, er könne daher auf ihren Beistand rechnen. Raphael begann nach Gründen für ihre Einstellung zu forschen, ob sie vielleicht Enttäuschungen erlebt habe, oder ob es Sorge um ihre körperlichen Reize war, die durch eine Mutterschaft beeinträchtigt werden könnten, oder weil ihr eine Unterordnung unter einen fremden Willen unerträglich erschien. Fœdora nahm es geduldig hin, von ihm so seziert zu werden. Er setzte noch eins drauf: ob sie nicht befürchten müsse, von einem Abgewiesenen getötet zu werden? Er selbst hatte tatsächlich diesen Impuls verspürt.
    Als er nach diesem Schlag, den Fœdoras klare Ansage ihm versetzt hatte, in sein Domizil zurückkehrte, nachdem ihm im Regen sein einziger Hut, mit dem er immer sorgsam umgegangen war, ruiniert worden war – symbolischer Ausdruck seiner beschädigten Männlichkeit –, war das Eintauchen in die gewohnte fami- liäre Umgebung wie Balsam für ihn. Düstere Gedanken bedrängten ihn, und als er Pauline gegenüber Andeutungen machte, er werde sie bald verlassen, erriet diese, was in ihm vorging. Am nächsten Tag suchte er Rastignac auf, um ihm das Vorgefallene zu berichten, und gestand ihm, dass er durch die vermehrten Aus- gaben in Geldschwierigkeiten geraten war. Rastignac konnte ihm nicht mit Geld aushelfen, fädelte aber für ihn mit einem Buchhändler ein Geschäft ein, dem er gegen ein ansehnliches Honorar eine Biografie liefern sollte.
    [Hier fügt Balzac einn paar bissig-süffisante Bemerkungen über deutsche Literatur ein, über Kant, Schiller, Jean-Paul, ihre "wasserfördernden" Bücher und die "deutsche Empfindelei".]
    Bevor der Handel am Abend perfekt gemacht werden und er von dem Auf- traggeber Finot einen Vorschuss erhalten sollte, erhielt er durch einen Boten von Fœdora eine Einladung zu einem Treffen. Gemeinsam gingen sie zu Fuss über die Boulevards zum Jardin des Plantes, für Balzac ein Anlass, den von Geldnot Geplagten und deswegen Qualen Erleidenden erneut in eine unerquickliche Lage zu bringen; zudem kam ihm der gemeinsame Spaziergang, bei dem Fœdoras Arm auf dem seinen ruhte, wie ein Traum am hellichten Tage vor und enthüllte gleichzeitig die zwischen ihnen bestehende Disharmonie, eine körperliche wie auch eine geistige: wenn er versuchte, sich ihrem inneren Rhythmus anzu- gleichen, stiess er auf eine verborgene Heftigkeit, etwas Ruckhaftes. "Frauen ohne Herz haben nichts Weiches, Anschmiegsames... wir waren weder durch einen gleichen Willen noch durch einen gleichen Schritt vereint".
    Raphael de Valentin verkehrte weiter in ihrem Haus; er sah ihre Schwächen und Fehler, ihre Manieren, die eine plebejische Herkunft verrieten, eine Falsch- heit, eine Höflichkeit, "die nach Liebedienerei roch", aber er liebte sie! Er orien- tierte sich an den dandyhaft gekleideten Männern, die bei ihr verkehrten, und so war der Vorschuss, den er von Finot bekommen hatte, bald aufgebraucht, für einen Logenplatz im Theater und unter anderem auch für einen neuen Hut, denn es war in Paris unmöglich, sich auf der Strasse ohne Kopfbedeckung zu zeigen! In Situationen wie dieser, in der ihm das Geld ausgegangen ist, zaubert Balzac gern einmal ein Wunder herbei, so auch hier: er lässt Pauline wie mit Zauberhand zwei 100-Sous-Stücke finden, die hinter das Klavier gerollt waren. Ein weiteres Mal musste er sich von der guten Seele sogar einen kleinen Betrag leihen, um zu einem Diner Fœdoras einen Strauss mexikanischen Jasmins mitbringen zu können.