Das Chagrinleder


    Er erstieg nicht ohne Mühe einen Gipfel und durchstreifte die Landschaften von herber und wilder Schönheit, mit zerklüfteten, von der Lava gezeichneten Tälern, mit von Schluchten zerrissenen Felswänden, einem Gehölz von Kasta- nienbäumen, sowie einem kleinen See am Grund des Kraters eines erloschenen Vulkans, auf dessen Oberfläche die Lichtstrahl sich spiegelten. In dem Tal entdeckte Raphael eine Wiese mit ein paar Kühen sowie ein einfaches, aus Granit gebautes und mit Schindeln gedecktes Haus, davor zeigten sich ein Greis mit wettergebräuntem Gesicht und ein Kind sowie eine etwa dreissigjährige Frau, strotzend vor Leben, ein vollkommenes Abbild der Auvergne. Sie klärte ihn darüber auf, dass der Alte, der Grossvater ihres Mannes, huntertundzwei Jahre alt war. Raphael beschloss, hier bei ihnen zu leben, ihre Luft zu atmen, ihren Schlaf zu schlafen; die Laune eines Sterbenden!
    In den ersten Tagen in dieser lachenden Landschaft erlebte er eine zweite Kindheit, er wurde eins mit den Tieren und Pflanzen, mit ihrem Atem wollte er voranschreiten und wachsen. Es war ein Auflackern, eine künstliche Genesung, die ihm Pausen der Erleichterung verschaffte. Eines Tages hörte er mit, wie die Bäuerin seinem Diener Jonathas, der täglich nach ihm sah, über seinen sich ver- schlechternden Gesundheitszustand berichtete und dass er den Ernst der Lage gar nicht begriff. Raphael stellte ihn zur Rede und verbot ihm, wegen seiner Ge- sundheit besorgt zu sein. Er schrie ihn an, fortzugehen. Er verwahrte sich gegen das Mitleid, das ihm von dem Greis, dem Kind, der Frau entgegengebracht wurde und das eine grauenerregende Verdüsterung in ihm erzeugte; mit dem Auftreten solch natürlicher Gefühle hatte er nicht gerechnet. Er reiste nach Paris ab.
    Bei einem Stop an einer Poststation bot sich Raphael ein Bild blühenden Lebens auf einem ländlichen Fest: Während der Postillon die Pferde wechselte, beobachtete er die Tänze, die jungen Leute, hübsche Mädchen und ausgelas- sene junge Männer. Beim Anblick dieses Glücks entfuhr ihm ein Fluch und der Wunsch, dass die Musik verstummte. Als er sich beim Weiterfahren noch einmal umschaute, sah er, dass der Talisman seine Wirkung getan hatte: in einem Wolkenbruch hatte sich das Fest aufgelöst und war in alle Winde zerstoben.
    Zu Hause angekommen fand er zahlreiche Briefe von Pauline vor. Er nahm einen, las den ersten Satz: "Abgereist! Aber das ist eine Flucht..." Er warf sie alle nacheinander ins Feuer. Zuletzt fischte er mit der Zange den Fetzen eines Briefes aus den Flammen und las ihn: sie habe gemurrt, habe sich aber nicht beklagt; sicher wollte er ihr mit seiner Abreise Kummer ersparen, sie könne alles ertragen, nur nicht, fern von ihm zu sein. Dieses Stück Papier war ein zu lebhaftes Bild seiner Liebe und seines unseligen Lebens. Er liess den Arzt Bianchon kommen, den er darum bat, ihm eine opiumhaltige Arznei zu besorgen, die ihn, um seinen Zustand erträglicher zu machen, in einen dauerhaften Halbschlaf versetzen sollte. Bianchon empfahl Jonathas, etwas zur Zerstreuung Raphaels zu organisieren, worauf der Diener antwortete, nachdem er einen Menschen getötet habe, könne nichts mehr Raphael zerstreuen.
   . Nachdem Raphael mehrere Tage unter der Wirkung des Opiums im Däm- merzustand verbracht hatte, rief er, weil er Hunger hatte, Jonathas zu sich, der ihm eine Überraschung ankündigte und ihn durch die Gänge zu einer Tür führte. Als er sie öffnete, war der Kranke geblendet von dem Anblick, der sich ihm bot: seine Freunde waren dort versammelt, auch wunderschöne Frauen in ihrem Schmuck und mit tiefausgeschnittenen Kleidern waren da, die reine Wollust, es herrschte eine ausgelassene Stimmung, und Raphael glaubte einem Trugbild zu erliegen. Doch als Aquilina ihn bei der Hand fasste, erkannte er, dass die Szenerie real war, er schrie auf und schlug Jonathas; das hatte dieser sich zur Zerstreuung des Sterbenden ausgedacht!