Noch einem weiteren Test wurde das Chagrinleder unterzogen, diesmal durch einen Chemiker, Baron Japhet. Er
prüfte es zunächst mit seiner Zunge, dann versuchte er es mit Säure zu zersetzen. Beim Versuch, ein
kleines Stück vom Leder abzuschneiden, zerbrach ein Rasiermesser. Auch aus einem Angriff mit Chlorstickstoff
ging das Chagrinleder siegreich hervor.
"Ich glaube an den Teufel!", murmelte Japhet. "Und ich an Gott!" antwortete Planchette. Die drei Gelehrten
beklagten die Ohnmacht der Wissenschaft und speisten fröhlich gemeinsam zu Abend.
Valentin kehrte voller Wut in sein Haus zurück, wo er überraschend Pauline in seinem Bett vorfand.
Als er ihr seine Todeesgedanken offenbarte, schreckte sie das nur einen kurzen Moment lang, dann sagte sie lachend:
"Wir wollen uns lieben und dann sterben!" Als sie nach dem Liebesakt im Bett eingeschlafen waren, hatte sich eine
Nachtigall auf das Fensterbrett gesetzt. Von ihrem Flügel- schlag aufgewacht betrachtete Raphael die Schlafende
und stellte Betrachtungen darüber an, dass den Frauen ihre unbefangene Natürlichkeit erst.durch den Schlaf
wiedergegeben werde. Ihr Anblick "hätte einen Künstler, einen Maler, einen Greis vor Liebe den Verstand
verlieren oder gar einen Wahnsinnigen wieder zu Verstand kommen lassen".
Pauline berichtete Raphael, welche Beobachtungen sie während seines Schlafes gemacht hatte; sein
rasselnder. Atem, die feuchten Hände, das Glühen wie im Fieber, all diese Symptome deuteten auf die
Schwindsucht hin, Er bekam plötzlich einen Hustenanfall, zitterte am ganzen Leib und war in Schweiss gebadet.
Bleich liess Raphael sich auf das Bett sinken. In seinem fahlen und hohlen Antlitz sah Pauline das Gerippe des
TODES vor sich.
Einige Tage darauf sass er in einem Lehnstuhl am Fenster, dank seines Reichtums umringt von drei der besten
Ärzte und dazu Bianchon, ein Vertreter der fortschrittlichen Medizin, mit dem Rastignac wie auch er befreundet
war. Um der menschlichen Wissenschaft das letzte Wort zu entreissen, hatte Valentin die Orakel der modernen Medizin
berufen. Die drei Koryphäen "trugen die ganze ärztliche Philosophie mit sich herum und repräsentierten
den Kampf, den der Spiritualismus, die Analyse und ein gewisser spöttischer Eklektizismus unter- einander
führten". Der eine sah in Raphaels Leiden, dessen Symptome auf eine Lungenschwindsucht hindeuteten, eine Folge
seiner Ausschweifungen und einer Erschöpfung durch die dreijährige Arbeit an seinem grossen Werk. Der
zweite, ein schwärmerischer und gläubiger Mann, war ein Vertreter des Vitalismus, der nur an das Wirken
geheimnisvoller Kräfte glaubte, an eine unsichtbare göttliche Flamme, die im Körper brennt.
Der dritte, ein Skeptiker, über dessen Lippen ein sardonisches Lächeln glitt, glaubte nur an das
Skalpell und behauptete, das beste System in der Medizin sei, keines zu haben.
Den drei Ärzten war eines gemeinsam: Raphael konnte bei ihnen kein Mitgefühl für sein Leiden
entdecken; sie massen ihn mit gleichgültigen Blicken, waren nur höflich und teilnamslos. Nachdem sie
sich zu einer separaten Bera- tung im Nebenraum zurückgezogen hatten, legten sie ihre Diagnosen dar, wobei
Raphael heimlich lauschte. Der erste erkannte eine starke Reizung des Magens, eine Empfindlichkeit des Epigastriums,
es sei keine Verdauung mehr da, der eigentliche Mensch, sein Intellekt sei verschwunden. Es habe sich auf das
Hirn ausgebreitet, es läge eine Monomanie vor. Ob es sich zusammenziehe oder nicht, dieses Chagrinleder sei
für ihn die Mücke auf der Nase des Grosswesirs. Mit einem Wort: die Behandlung des Verdauungsapparates,
die von Bianchon durchgeführt werden sollte, sei wichtiger als die der Lungen.