" Überzeugungen, Vorurteile, Theorien... dienen, indem sie uns das Vermögen leihen, das
wir ihnen borgen, dem Zweck, die Welt in ein Licht zu stellen, dessen Schein von uns ausgeht, und im Grunde ist
nichts anderes als dies die Aufgabe, für die jeder sein besonderes System hat. Mit grosser und mannigfacher
Kunst erzeugen wir eine Verblendung, mit deren Hilfe wir es zuwege bringen, neben den ungeheuerlichsten Dingen zu
leben und dabei völlig ruhig zu bleiben... Wir sind imstande, zwischen einem offenen Himmelsabgrund über
unserem Kopf und einem leicht zugedeckten Himmelsabgrund unter den Füssen, uns auf der Erde so ungestört
zu fühlen wie in einem geschlossenen Zimmer. Wir wissen, dass sich das Leben ebenso in die unmenschlichen
Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schicht
von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten davon anfechten zu lassen, dass das bloss die Bevorzugung
der Eindrücke bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches Ver- halten liegt
beträchtlich unter der Höhe unseres Verstandes, aber gerade das beweist, dass unser Gefühl stark
daran teil hat. Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der Erhaltung eines
beständigen Gemütszustands, und alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts
gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewussten Anstrengung, welche die Menschheit macht, um sich
ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren!"
" Es [Kakanien] war ein kluges Land und beherbergte kultivierte Menschen; wie alle kultivierten
Menschen an allen Orten der Erde liefen diese zwischen einer ungeheuren Aufregung von Geräusch, Geschwindigkeit,
Neuerung, Streit- fall und allem, was sonst noch zur optisch-akustischen Landschaft unseres Lebens gehört, in
einer unentschiedenen Gemütslage umher; wie alle anderen Menschen lasen und hörten sie täglich
einige Dutzend Nachrichten, die ihnen die Haare sträubten, und waren bereit, sich über sie zu erregen, ja
sogar einzu- greifen, aber es kam nicht dazu, denn einige Augenblicke später war der Reiz schon durch neuere
aus dem Bewusstsein verdrängt; wie alle anderen fühlten sie sich von Mord, Totschlag, Leidenschaft,
Opfermut, Grösse umgeben, die sich irgendwie in dem Knäuel ereigneten, der um sie gebildet war, aber
sie konnten zu diesen Abenteuern nicht hingelangen, weil sie in einem Büro einer anderen Berufsanstalt gefangen
sassen, und wenn sie gegen Abend freikamen, so explo- dierte ihre Spannung, mit der sie nichts mehr anzufangen
wussten, in Vergnüg- ungen, die ihnen kein Vergnügen bereiteten. Und eines kam gerade bei den Kultivierten,
wenn sie sich nicht so ausschliesslich der Liebe widmeten wie Bonadea, noch hinzu: Sie hatten nicht mehr die Gabe
des Kredits und nicht die des Betrugs. Sie wussten nicht mehr, wo kam ihr Lächeln, ihr Seufzer, ihr Gedanke
hin? Wozu hatten sie gedacht und gelächelt? Ihre Ansichten waren Zufälle, ihre Neigungen waren längst
da, irgendwie hing alles als Schema in der Luft, in das man hineinlief, und sie konnten nichts von ganzem Herzen tun
oder lassen, weil es kein Gesetz ihrer Einheit gab. Auf solche Weise war der Kulti- vierte der Mensch, der fühlte,
dass eine Schuld immer höher steige, dass er sie nie mehr würde abtragen können, er war der Mann, der
den unausweichlichen Konkurs sah und entweder die Zeit anklagte, in der er zu leben verurteilt sei, obgleich er
genau so gerne in ihr lebte wie nur irgendwer, oder sich mit dem Mut eines, der nichts zu verlieren hatte, auf jede
Idee stürzte, die ihm eine Änderung versprach."