Ein Jahr geht zu Ende, ein neues steht bevor; Corona wird uns wohl auch in ihm erhalten
bleiben, scheint zu einem ständigen Begleiter zu werden. Das hinter uns liegende Weihnachtsfest erscheint
mir geradezu als prädestiniert, um mit seinen christlichen Vorstellungen von der Heiligen Familie mit dem
Jesuskind die folgenden Ausführungen Musils über mystische Bedürfnisse, über Glauben, das
Erlebnis der Nähe zu Gott (Beispiele: das katholische Sursum Corda oder J.S.Bachs Bist du bei mir...) anschaulich zu bebildern, wobei es gleichzeitig auch ein schlagendes Beispiel
für die "Vermengung mit grob irdischem Verhalten" abgibt.
" Man muss es vielleicht dem Spiritismus danken, dass er durch seine komische, an den Geist
verstorbener Köchinnen erinnernden Rapporte aus dem Jenseits das grobe metaphysische Bedürfnis befriedigt,
das wenn nicht Gott, so wenigstens die Geister wie eine Speise löffeln will, die im Dunkel eiskalt den Hals
hinunterrinnt. In älteren Zeiten bildete dieses Bedürfnis, mit Gott oder seinen Gefährten
persönlich in Berührung zu kommen, was angeblich im Zustand der Ekstase geschah, trotz seiner zarten
und teilweise wunderbaren Ausgestaltung doch eine Vermengung grob irdischen Verhaltens mit den Erlebnissen eines
äusserst ungewöhnlichen und unbestimmbaren Ahnungszustandes. Das Meta- physische war das in diesen Zustand
hineingelegte Physische, ein Abbild irdischer Wünsche, denn man glaubte in ihm das zu sehen, wovon die
zeit- gemässen Vorstellungen lebhaft erwarten machten, dass man es sehen könne. Nun sind es aber gerade die
Vorstellungen der Intelligenz, was sich mit den Zeiten ändert und unglaubwürdig wird; wenn jemand heute
erzählen wollte, Gott habe mit ihm gesprochen, habe ihn schmerzhaft an den Haaren gepackt und zu sich
emporgezogen oder sei in einer nicht recht begreiflichen, aber lebhaft süssen Weise in seine Brust
hineingeschlüpft, so würde diesen bestimmten Vor- stellungen, in die er sein Erlebnis kleidet, niemand
glauben, am wenigsten natür- lich die amtlichen Gottesmänner, weil sie als Kinder eines vernünftigen
Zeitalters eine recht menschliche Angst davor haben, von exaltierten und hysterischen Anhängern blossgestellt
zu werden. Das hat zur Folge, dass man entweder Erlebnisse, die im Mittelalter wie im antiken Heidentum zahlreich
und deutlich vorhanden gewesen sind, für Einbildungen und Krankheitserscheinungen halten muss oder vor die
Vermutung gestellt wird, dass in ihnen etwas enthalten sei, was unabhängig von der mythischen Verbindung ist,
in die man es bisher immer gebracht hat; ein reiner Erlebniskern, der auch nach strengen Erfahrungs- grundsätzen
glaubwürdig sein müsste und dann selbstverständlich eine überaus wichtige Angelegenheit
bedeuten würde; beiweitem ehe man an die zweite Frage kommt, welche Schlüsse daraus auf unsere Beziehung
zur Überwelt zu ziehen seien. Und während der in die Ordnung der theologischen Vernunft gebrachte Glaube
überall einen argen Kampf mit Zweifel und Widerspruch der heute herr- schenden Vernunft zu bestehen hat, scheint
es, dass sich in der Tat das nackte, aller überkommenen begrifflichen Glaubenshüllen entschälte, von
den alten religiösen Vorstellungen losgelöste, vielleicht kaum noch ausschliesslich religiös zu
nennende Grunderlebnis des mystischen Erfasstwerdens ungeheuer ausge- breitet hat, und es bildet die Seele jener
vielförmigen irrationalen Bewegung, die wie ein Nachtvogel, der sich in den Tag verloren hat, durch unsere
Zeit geistert."