Nach einer geballten Ladung Kafka im Fernsehen – ein Beitrag mit Anmer- kungen zu Leben und Werk,
u.a. von dem Philosophen Rüdiger Safranski, gefolgt an mehreren Abenden von einem Mehrteiler über
Kafkas Leben –, kamen alte Erinnerungen an ein Kapitel meines Lebens, meine Besessenheit von diesem Autor,
wieder hoch.
Es begann mit Kafka im Deutsch-Unterricht bei Änne Westkamp, soll ich die Geschichte wirklich noch
einmal hervorkramen, sie aus dem Schlummer einer fünfzigjährigen Versenkung hervorholen? Wie ich mich als Experte
für diesen rätselhaften Dichter hervortat, der bei vielen Befremden, Verwirrung und Hilf- losigkeit
hervorrief, so mit seinem Das Urteil, als der Klasse die Aufgabe gestellt wurde, von dieser
Erzählung bis zur nächsten Stunde eine Interpretation zu verfassen. Rätselhaft: darum ging es,
Kafka gab einem Rätsel zu knacken, es war eine intellektuelle Herausforderung, und ich glaubte für
diese Geschichte mit ihren paradoxen Wendungen den Schlüssel gefunden zu haben: Er lautete
"Vertauschung", und ich präsentierte grosssprecherisch den etwas ratlosen Klassenkameraden meine Idee
einer Vertauschung der Rollen, die sich zwischen Georg und dem Vater vollziehe (so in etwa stellt es sich vage
in meiner Erinnerung dar): Georg hat den durch das Alter geschwächten Vater zunächst gewissermassen in
der Hand; dann kehrt sich das Machtverhältnis um, was diesen, "immer noch ein Riese", zum "Schreckbild"
werden lässt.
Das Resultat: Änne Westkamp gab ein paar Tage später mir und denen, die sich von mir
beeinflussen lassen und meine Interpretation übernommen hatten, die Arbeiten mit einem Kopfschütteln
zurück. Es war ein Vorbote meiner späteren Kafka-Besessenheit, die mich auch auf Das Urteil
zurückkommen liess, nun durch mein erweitertes Wissen, nachdem ich u.a. seine Tagebücher gelesen
hatte, in der Gewissheit gestärkt, "zu wissen, wie er tickt(e)".
Eine in besagter Fernsehsendung von R.Safranski getroffene logische Fest- stellung lautete, dass es den
Schriftsteller Kafka, wie wir ihn heute kennen, als Autor der Romane Der Verschollene, Der Prozess,
und Das Schloss nicht gäbe ohne jene entscheidende Begegnung mit Max Brod gegen Ende des
19. Jahrhunderts, der als sein lebenslanger Freund seine Bedeutung erkannte, dem Kafka vor seinem Tod
sämtliche Manuskripte mit der Aufforderung übergab, sie zu vernichten, der diesem Wunsch jedoch nicht
nachkam und der 1939 nach der Besetztung der Tschechoslowakei mit diesem kostbaren Besitz im Gepäck mit einem
der letzten Züge Prag verliess.
Keine Frage: ohne die drei Romane, die zu Lebzeiten nie veröffentlicht wurden und in dem unfertigen
Zustand von keinem Verleger herausgebracht werden konnten, gäbe es den weltberühmten Schriftsteller Kafka
heute wohl nicht; doch gesellschaftlicher Wandel mit verändertem Leseverhalten – dazu die unermüdliche
Promotion durch Max Brod als Herausgeber – machte dies möglich. Als Autor, nach einem
ersten schmalen Bändchen, der Betrachtung im Jahre 1912, einer überschaubaren Anzahl
von Erzählungen war er zu seiner Zeit eher ein Geheimtip, eine Randerscheinung, ohne Aussicht, dass er mit
einem gelungenen Roman an seine bewunderten Vorbilder, Goethe – siehe sein Besuch Weimars im selben Jahr sowie
zahlreiche Anmerkungen im Tagebuch und Zitate wie zum Beispiel dieses: "Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos"
– oder an den vor allem wegen der Éducation Sentimentale von ihm ebenfalls
geschätzten Flaubert, heranreichen könnte.
Für mich eine spannende Frage, ob und wie ein (un)eingestandener Ehrgeiz Kafkas, seine Literatur
mit der der Grossen zu messen, sich in Werken selbst niederschlägt und ihre Gestalt mitbestimmt.