Ein neues Kapitel  –  Kafka forever!?


    Zunächst einmal erscheint es anhand des Tagebuchs plausibel, den Heizer, das erste Kapitel des Verschollenen, in einen direkten Zusammenhang zum Urteil zu stellen; die Niederschrift folgt unmittelbar auf Anmerkungen zu letzterem. Nun zur Thematik, dem Aufbruch des jungen Karl Rossmann, der nach einer sittlichen Verfehlung, er hatte ein Dienstmädchen geschwängert, nach Amerika abgescho- ben wurde und der dort sein Glück versuchen soll. Stellt man diese Eingangs- situation dem Anfang vom Urteil gegenüber, so erkennt man gleich eine Entsprechung, das "Auf zu neuen Ufern", hier als Ausblick über den Fluss auf die Anhöhen "mit ihrem schwachen Grün", dort als Aussicht auf ein neues Leben jenseits des Ozeans. Zum Projekt "Auswandern" gibt es im Urteil ebenfalls eine Parallele: hier das Fortgehen des Freundes in die unbekannte Fremde, ins ferne Russland. Alldies lässt sich mit der Wahl des Namens Rossmann ergänzen, in dem nach Kafka'scher Manier ein Bezug zu "Bauer" als auch zu "Feld" anklingt ("Im Märzen der Bauer...").
    Hier komme ich nun auf meine Annahme einer aus einem Text herausles- baren Mehrdeutigkeit zurück, dass, in ihm verklausuliert, ein bei geübtem Lesen mit einem das Konkrete durchdringenden Röntgenblick, einem "Siebten Sinn", zu erkennender Hintersinn unterlegt ist, der wie in dem oben ausgeführten Beispiel – "alte Zeitung": alte Erinnerung – sich erst durch Übersetzen erschliesst. Dieser Logik folgend hat Kafka mit dem "Aufbruch zu einem neuen Kontinent" sein literarisches Projekt, das Schreiben eines Romans selbst im (Hinter-)Sinn, ein Vorhaben, bei dem er in der Vergangenheit gescheitert war, wie fünf Jahre zuvor mit den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande.
    Schon im Urteil, wenn es von dem Freund [K.s Alter Ego] in Petersburg heisst, dass sein Geschäft "anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien", der "sich offenbar verrannt hatte", kann man sich diesen Hintersinn – sein "Geschäft" ist das Schreiben – unterlegt denken, als eine Anspielung auf seine bisherigen unbefriedigenden Schreibversuche. Im Tagebuch vermerkt er nach der Niederschrift von Das Urteil: "Die bestätigte Über- zeugung, dass ich mich mit meinem Romanschreiben(!) in schändlichen Niede- rungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele".
    Nun, nachdem er sich durch die Niederschrift des Urteil bestätigt fühlt, treibt er das mit dem Heizer begonnene Roman-Projekt voran... bis er es, nachdem er sich wie schon bei dem erwähnten früheren Versuch, den Hochzeitsvorbe- reitungen, mehr und mehr in eine Sackgasse geschrieben hat, unvollendet abbricht. Bestimmte Wendungen, für mich "Symptome" des sich abzeichnenden Abbruchs, erweisen sich als Hemmnisse, die ihn schliesslich erzwingen; ich werde später darauf zurückkommen.
    Die Beziehung der Erzählung Die Verwandlung zu dem vorangegangenen Urteil wird von Kafka selbst als ein weiteres Spiel mit den Namen inszeniert: aus Georg wird, durch veränderte Anordnung der Buchstaben plus Hinzufügen eines " r ", Gregor, und die Namen Samsa und Kafka klingen dank der gleichen Vokale sehr ähnlich. Um weitere, substanzielle Anknüpfungen, die über die Namens- ähnlichkeit hinausgehen – ein gemeinsamer Nenner, als eine Variable aus dem realen Leben, ist dabei die sich entwickelnde Beziehung Kafkas zu Felice – kenntlich zu machen, ist es notwendig, mit dem schon beschworenen "Siebten Sinn" den Text nach Entsprechungen bzw. Anknüpfungen zu durchforsten.