Nachdem ich mich, den Eingebungen meines Siebten Sinns unbedingt ver- trauend, ziemlich weit in einen
Spekulations-Sumpf habe hineinlocken lassen, will ich noch eine weitere äusserst gewagte These auf den
Tisch legen, bevor Kafkas Rächer-Hand aus dem trüben Wasser auftaucht und mich in die Tiefe
hinabzieht. Wende ich mich also der letzten Station im Kafka'schen Labyrinth zu, einer Episode, aus der es mir
förmlich entgegenschallt: Dies ist eine Maskerade, ich bin etwas anderes, als ich zu sein scheine. Ich
rede von der schon kurz erwähnten Brunelda-Episode im Verschollenen.
Beginne ich mit Parallelen, Entsprechungen, Anklängen. Zunächst: die Episo- de bildet den Schluss
des bis Ende 1912 entstandenen Teils des Verschollenen, danach bricht das Manuskript ab. (Das
Schlusskapitel "Das Naturtheater von Oklahoma" ist erst später entstanden und schliesst sich nicht organisch
an das Vorangegangene an.) Sie hat also mit dem Schluss der Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande
gemeinsam, dass sie eine Entwicklung markiert, die sich für Kafka als eine Sackgasse erweist, so dass er die
Weiterführung des Romans, wenn man von einigen Fragmenten absieht, aufgibt.
Weiter: was sagen uns die Namen, mit denen Kafka bekanntlich gern spielt, wodurch bestimmte Beziehungen
hergestellt werden? Um mit Robinson zu be- ginnen: in ihm klingt "Raban" aus den Hochzeitsvorbereitungen
an, weiter führt der Pfad über "Rabe" zu "Dohle", tschechisch: "kavka". Eine Erzählung Kafkas
hat den Titel Der Jäger Gracchus, lateinisch für "Krähe". Formale Spielereien
oder von tieferer Bedeutung?
Brunelda, eine Italienisierung des Namens "Brunhild", weckt Assoziationen zu "braun", der
Farbe des Maikäfers; haben wir es also mit einem Gregor Samsa in neuer Gestalt zu tun? Einige Entsprechungen
sind zu erkennen: sie kann wegen ihrer Körperfülle das Zimmer kaum verlassen, lebt praktisch wie eine
Gefangene und ist mit ihrem Phlegma in gewisser Weise "ans Kanapee gefesselt" – zum Vergleich: Gregor verbringt
Stunden liegend auf einem "kühlen Ledersopha" –. Was erfahren wir über sie? Sie war früher
Sängerin, also Künstlerin – es handelt sich hier also auch um die Künstler-Problematik.
Ich behaupte, sie verkörpert – neben anderen Bedeutungen, nicht zu übersehen ist die erotische
Aufgela- denheit der Szenerie, was sie in eine Beziehung zu der eben aufgenommenen Brief-Beziehung Kafkas mit Felice
setzt – selbst die Kunst, als eine Art "Götzin", der die beiden Mitbewohner, Robinson
und Delamarche, unterwürfig zu Diensten sein müssen, was nach Robinsons Worten "kein Dienst, sondern
eine Sklaverei" ist. Konkret ist es das Werk, dem alles unterzuordnen ist.
Eine deutliche Anspielung auf die Verwandlung ist die Verwundung, die Karl von Delamarche
zugefügt wird, als sie miteinander kämpfen; von dem Stoss, den dieser ihm versetzt, verspürt er
tagelang einen Schmerz im Rücken. Zur Erinne- rung: nach dem Angriff des Vaters hatte der im Rücken
steckengebliebene Apfel Gregor noch lange Zeit Schmerzen verursacht. Auch in einer Reihe weiterer Episoden kann
man Anspielungen, ja Wiederholungen erkennen: Die Art, wie Robinson für Brunelda ein Frühstück
"organisiert", indem er es durch Zusammen- kratzen aus unappetitlichen Resten herrichtet, die von Hotelgästen
übriggelassen worden waren: aus Resten etwas machen, kommentiert Kafka hier seine Schreib- methode,
früher Geschriebenes wiederaufzugreifen? Eine ähnliche Szene gibt es in der Verwandlung:
"Da war altes halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl her... ein Käse, den Gregor vor zwei Tagen
für ungeniessbar erklärt hatte" (in der Übersetzung: eine Passage, ein Einfall, den er schon einmal
ver- worfen hatte). Und auch in einer scheinbar unvermittelten Szene im Brunelda-Kapitel, der erfolglosen Suche
Robinsons und Karls nach einem Schlüssel, klingt eine andere in der Verwandlung an, bei der
sich die Vermutung einer Verschlüsselung förmlich aufdrängt: Gregors Umtänzeln des
Schlüssels, bis es ihm gelingt, ihn im Schloss umzudrehen: "Ich habe also den Schlosser nicht gebraucht".
Dies als Ergänzung zu den oben dargelegten inhaltlichen Verbindungen zwi- schen den hier von mir
einbezogenen Erzählungen, zu denen auch der Bericht für eine Akademie zählt.