Ein neues Kapitel  –  Kafka forever!?


    Bereits die erste Kommentierung Kafkas im Tagebuch unmittelbar nach Vollendung von Das Urteil enthält die Bemerkung "Gedanken an Freud natürlich". Wir wissen nicht, welcher Art seine Kenntnis, Freuds Theorie betreffend, war. Bekanntlich geht sie so: Sohn will Vater beseitigen, um die Mutter zu besitzen, in der populär kolportierten Form, der Oedipus-Sage entsprechend: "um mit ihr zu schlafen", was natürlich nicht in Freuds Sinn ist, der sie auf die Kindheit bezieht. Tatsächlich ist es eine Dreiecksgeschichte; im Urteil erscheint sie aber über- wiegend auf ein Vaterkomplex-Drama zwischen Sohn und Vater reduziert. [Um eine auf den Schluss beschränkte Interpretation, den Vollzug des vom Vater ausgesprochenen Urteils durch Selbstauslöschung, zu wagen: Diese stellt eine atypische, "verkehrte" Auflösung des oedipalen Konflikts dar, der Motivation Georgs folgend, die lautet: Wenn ich nicht ein Sohn auf meine Art sein kann, dann sollst du gar keinen haben.]
    Anlässlich eines Vorlesens bei dem befreundeten Weltsch: "Ich hatte Tränen in den Augen. Die Zweifellosigkeit der Geschichte bestätigt sich". Auf eine Bemerkung der Schwester, sie stelle sich die Wohnung ähnlich der ihren (d.h. der Kafka'schen) vor, antwortete er: "Wieso? Da müsste ja der Vater im Kloset wohnen" (in der ersten Brod'schen Ausgabe der Tagebücher weggelassen). Ein Scherz Kafkas über den Vater in der Toilette, der ihm anscheinend so gut gefiel, dass er ihn noch ein zweites Mal notierte: Das ist tatsächlich eine Phantasie, den Vater aus dem Weg zu räumen, nämlich indem man ihn aufs Klo verbannt!
    Nachdem Anfang Oktober Felice auf den Brief Kafkas geantwortet hatte, begann zwischen ihnen der von ihm herbeigesehnte, in der Folge sich intensiv entwickelnde umfangreiche Briefwechsel. Ein Vierteljahr später aus Anlass der Korrektur von Das Urteil befasst er sich im Tagebuch mit den Namen, stellt die identischen Initialien, F.B., der Verlobten, Frieda Brandenfeld, und von Felice fest, weiter die gleiche Anzahl der Buchstaben von Franz und Georg, von Frieda und Felice, und dass zudem bei Kafka und Bende die Vokale sich an den gleichen Stellen befinden. Darüber hinaus wird durch die Widmung der Erstausgabe, "Eine Geschichte für Fräulein Felice B.", klar, wie sehr Das Urteil mit Felice zu tun hat.
    Bis hierher erscheint mir alles als gut belegt und abgesichert, im Gegensatz zu folgenden Vermutungen, weitergehenden, nicht zu belegenden Annahmen, bei denen es im Unklaren bleibt, wie plausibel sie sind und ob sie, obwohl blosse Spekulationen, der Wahrheit dennoch nahekommen oder nicht. Es geht um die Annahme, dass die Wahl des Namens Georg für den Protagonisten kein Zufall ist, dass er vielmehr für Kafka eine sehr persönliche Bedeutung hatte: Georg war der Name des Älteren (geb.1885) von zwei nach ihm geborenen, im frühen Kindesalter verstorbenen Brüdern, Kafka muss bei Georgs Tod um die vier bis sechs Jahre alt gewesen sein. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass er sich über die Bedeutung dieser Wahl nicht im Klaren war. Hat er den Zusammen- hang bewusst verschwiegen?
    Mit spekulativer Phantasie, einem "Siebten Sinn", liesse sich vielleicht in einem Detail das Einfliessen einer Erinnerung an diesen Bruder in die Erzählung erkennen, dem unvermittelten Auftauchen eines Zeitungsblattes: einer "alten Zeitung, mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen" – es entspräche einer Schreibmethode Kafkas, der oben postulierten Verrätselung mittels einer Codierung, einer Sprachumwandlung ("alte Zeitung": alte Erinnerung?); die Rückübersetzung ergäbe für den zunächst unverständlichen Satz den Sinn: "Der Georg schon ganz unbekannte Name ist Georg".