Ein neues Kapitel  –  Kafka forever!?


    Eine Antwort auf die Frage nach der Relevanz – die sich ganz eindringlich im Fall von Das Urteil stellt, an der ich mir schon in meiner Schulzeit und dann im Rahmen einer Kafka-Manie die Zähne ausgebissen habe –, welche ein sich nicht aus einem Text selbst, sondern anhand von zusätzlichen recherchierten Fakten erschliessender Sachverhalt hat, was man bei einer Lektüre über die Hinter- gründe wissen sollte oder nicht, hängt sicherlich beim jeweiligen Leser davon ab, welcher Art seine Erwartungen an die Literatur sind, wie weit sein Interesse über das Werk hinaus für die Motive des Autors geht. Eine Gruppe mit überwiegend genussbetonter Einstellung, deren Motivation hauptsächlich in einem reinen Lesevergnügen besteht, das bei der Kafka-Lektüre wohl eher eingeschränkt möglich ist, habe ich schon angesprochen. Wie weit bei manchen erklärten Kafka-Fans das "Vergnügen" bis hin zu einem fast ekstatischen Genuss auch gehen kann, das war in der schon genannten Fernsehsendung am Beispiel über- schwänglicher Statements zu erleben. Diese Kategorie, für die bei diesem Autor vermutlich in erster Linie das Skurrile, Abstruse, auch das Makabere Unter- haltungswert hat, möchte wohl eher das Düstere, das Abgründige – ich denke vor allem an Kafkas Suizidalität, wie sie sich schon im Urteil, dann auch im Prozess und in In der Strafkolonie äussert – ausklammern oder gezielt missverstehen.

    " Kafka ist das Opfer einer Massenvergewaltigung durch eine Armee von Interpreten geworden" (Susan Sontag) [zitiert auf der Wikipedia-Seite "Das Urteil (Kafka)"]
    Ich will den zahlreichen Interpretationen vom Urteil, durch das ich, wie bereits erwähnt, in meiner Schulzeit schon einmal aufs Glatteis geführt worden bin, keine weitere hinzufügen, aber doch auf einige Umstände, die für die Entstehung dieser Erzählung bedeutsam waren, eingehen, denn welche Bedeutung auch für Kafka selbst solche Bezüge hatten, wird durch eine Reihe von Anmerkungen belegt, die er dazu in seinem Tagebuch gemacht hat.
    Ein längerer Eintrag findet sich unter dem Datum der Niederschrift der Erzählung, der Nacht vom 22. zum 23. September 1912; weitere Hinweise geben aber auch die Eintragungen davor und danach: Sechs Wochen zuvor: ein Brief an Rowohlt, an den er seine Betrachtung geschickt hat; am 20sten Briefe, u.a. an Fräulein B. (Felice Bauer, die spätere Verlobte) und Max Brod. am 25sten ein Bericht über ein erstes Vorlesen der Erzählung. Dann unmittelbar nach einem kurzen Eintrag ("Körners Leben...") folgt die Niederschrift von Der Heizer, des ersten Kapitels des Verschollenen, von Brod in Amerika umbenannt.
    Allein aus dieser Zusammenstellung – ein Eintrag über die Verlobung seiner älteren Schwester Valli, wodurch sicherlich auch die Frage nach seiner eigenen, von der Familie erwarteten Verheiratung im Raum stand, könnte noch hinzu- genommen werden – lässt sich ablesen, dass die Entstehung der Erzählung in eine Zeit von Entwicklungen fällt, die für das weitere Leben Kafkas, sowohl für das private als auch für das als Künstler, entscheidende Weichenstellungen bedeuteten. Das Bild wird noch differenzierter und komplexer, wenn man sich seine Korrespondenz in dem Zeitraum, der zweiten Jahreshälfte 1912, anschaut: