Ein neues Kapitel  –  Kafka forever!?


    Zum Bericht für eine Akademie, 1917 entstanden: Deutliche Verbindungen sind zur Verwandlung zu erkennen – abgesehen davon, dass das Subjekt wieder Tiergestalt hat: hier die Schussverletzung, die der Affe Rotpeter bei seiner Gefangennahme erleidet; dort die Verletzung durch den Apfelwurf des Vaters, dazu eine weitere Parallele: auch für Gregor wird seine Verwandlung zur Gefangenschaft. Und was Rotpeter betrifft, es ist eine andere Art von "Verwandlung", die er durchmacht: die eines Affen in ein Mitglied der menschlichen Zivilisation.
    Darüber hinaus steht der Bericht aber auch in einer Beziehung zum Urteil. Ich behaupte nämlich, dass in ihm von Kafka selbst mit einem ganz konkreten Hinweis auf eine Mystifikation hingedeutet wird, d.h. dass ein übergreifender Zusammenhang, in den die Erzählung gestellt ist, verborgen und gleichzeitig erkennbar gemacht wird. Es ist die konkrete Zeitangabe "nahezu fünf Jahre", die das für Rotpeter einschneidende Ereignis, die Schussverletzung und der Beginn der Gefangenschaft, zurückliegt, die mich auf die Spur brachte. Nun ist die Frage, ob diese konkrete Angabe willkürlich und ohne besondere Bedeutung ist – die Zeitangabe "fünf Jahre" findet sich hier nicht zum erstenmal, oder ob sich darin ein ganz spezifischer Hinweis Kafkas verbirgt. Jedenfalls, wendet man die Zeitangabe auf den Bericht für eine Akademie an und geht vom Jahr 1917, in dem die Erzählung entstanden ist, fünf Jahre zurück, dann gelangt man nach 1912, dem Jahr des Entstehens von Das Urteil, das, wie oben dargelegt, von Kafka selbst mit dem Empfangen einer Wunde gleichgesetzt wurde.
    Die "Biografie" des Affen Rotpeter, die seine fünfjährige Gefangenschaft umfasst, ist also auch eine Mystifikation, ihr ist nach meiner Lesart "mit dem Siebten Sinn" eine fiktive Autobiografie, eine Künstlerbiografie Kafkas, die mit der Niederschrift von Das Urteil in der Nacht vom 22. zum 23.September 1912 beginnt, unterlegt.
    Der Bericht für eine Akademie gehört zu einer Reihe von Erzählungen, wie auch Ein Hungerkünstler, Auf der Galerie und Erstes Leid, in denen Kafka sich damit auseinandersetzt, was es für ihn bedeutet, ein Künstler zu sein. Er gibt eine Entwicklung Rotpeters, einen Klärungsprozess wieder; er musste sich zunächst mit der Realität abfinden, dass es einen Weg in die Freiheit für ihn nicht gibt, um zu der Einsicht zu gelangen, dass ihm nur die Möglichkeit eines Auswegs offensteht, der des Künstlertums: indem er die Schnapsflasche ergriff, "...als Trinker vom Fach,...wirklich und wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche hinwarf...". Hier wird zu der Verrätselung (Schreiben: "Trunksucht") ein Übersetzungsschlüssel – "Trinker" gleich "Künstler" – von Kafka praktisch mitgeliefert:.
    Nachdem ich meinem "Siebten Sinn" freien Lauf gelassen und mit meinen Spekulationen den abgesicherten Boden der Fakten verlassen habe, setze ich noch eins drauf. Wie angedeutet, findet sich die Zeitangabe "fünf Jahre" schon früher, nämlich in der Verwandlung: dort geht es um eine kleine Wertheimkassa, die Gregors Vater "aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes gerettet hatte". Seitdem versucht Gregor als Reisender, die Familie über Wasser zu halten.
    Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks "Geschäft" erschliesst sich bereits im Urteil, dort war es das schlecht gehende Geschäft des fernen Freundes, das "seit langem aber schon zu stocken schien"; der Ausdruck "stocken" verrät es eigentlich schon, er wird doch wohl eher im Zusammenhang mit dem Schreiben verwendet. Das "Geschäft" Gregor/Kafkas als Reisender in der Verwandlung, von mir postuliert, ist auch hier das Schreiben.
    Wohlgemerkt, wir sind hier wieder im Jahr 1912, dem Jahr der Entstehung der beiden Erzählungen. Geht man von hier aus fünf Jahre zurück in das Jahr 1907, dann stösst man tatsächlich auf ein grösseres "Geschäft", ein gescheitertes Romanprojekt Kafkas, die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande.