Wenn ich eine Darstellung meiner früheren Bemühungen versuche, mit denen ich dem Werk Kafkas
zu Leibe gerückt bin, dann geschieht das mit der Vorgabe eines vierzig Jahre zurückliegenden
"Wiederherstellungspunktes", um einen Begriff aus der Windows-Welt zu verwenden, d.h. ich
gehe auf den damaligen Zustand, auf den Kenntnisstand auf der Grundlage des damals zur Verfügung stehenden
Materials, der Biografien und Forschungsberichte zurück. Um später erschienene Biografien, die ich nicht
mehr zur Kenntnis genommen habe, werde ich mich also nicht kümmern, da es nicht mein Interesse ist, einen
aktuellen Wissensstand widerzuspiegeln, oder mein Ehrgeiz, mit neuen Erkenntnissen den wissenschaftlichen
Diskurs zu bereichern; die sehr persönliche "Öffentlich- machung", wie sie hier geschieht, ist im
übrigen nicht darauf angelegt.
Für die Aneignung des Kafka'schen Werks bieten sich meiner Ansicht nach in erster Linie zwei
Methoden der Annäherung an, die sich auch in besagter Fernsehsendung in den wiedergegebenen Äusserungen
deutlich voneinander abhoben. Die eine zielt auf den Unterhaltungswert der Story, auf einen möglichen
ästhetischen Genuss ab; ein klassisches Beispiel war für mich, das ist um die fünfzig Jahre her,
eine Verfilmung einer dramatisierten Bühnenfassung des Berichts für eine Akademie mit
dem Schauspieler Klaus Kammer als Affe Rotpeter in entsprechender Maske.
Die andere Herangehensweise ist die textkritische, analytische, deren Ansatz es ist, einen Text unter verschiedenen
Gesichtspunkten zu untersuchen und, was insbesondere für die vielschichtigen Werke Kafkas charakteristisch ist,
unter- gründige Ebenen freizulegen und nicht offen daliegende Beziehungs- und Bedeu- tungsstränge kenntlich
zu machen. Dazu können auch jene bekannten Mystifika- tionen gezählt werden, auf die ich unten noch eingehen
werde.
Es hängt zweifellos vom subjektiven Blick, von der Offenheit für bestimmte Themen bzw. Problemfelder,
also auch von einer Voreingenommenheit des/der Lesenden ab, auf welche Aussagen eines Textes sich seine Aufmerksamkeit
besonders richtet, was für Assoziationen in ihm/ihr geweckt werden. Ich stelle mir einen Text als ein Knäuel
ineinander verschlungener Schnüre bzw. Fäden in verschiedenen Farben, aus unterschiedlichen Materialien und
von unterschied- licher Stärke vor, mit mehr oder weniger freiliegenden, sichtbaren Enden. Je nachdem, nach
welchem Ende man greift, einem starken blauen oder einem feinen grauen, und daran zieht, wird man Hinweise oder
Anspielungen auf bestimmte Themenkomplexe offenlegen, als da sind: Autobiografisch/Persön- liches, Literarisches,
Philosophisches, Mythologisches, Religiöses, Psycholo- gisches, Pathologisches.
Aus dem Dargelegten ergibt sich die Frage nach der Relevanz dessen, was mit dem jeweiligen Deutungs- oder
Forschungsansatz zutage gefördert wurde. Um ein Beispiel anzuführen: von der Erzählung
Elf Söhne ist bekannt, dass es sich dabei um eine Mystifikation handelt, die von Kafka selbst indirekt
offengelegt wurde, dass darin ganz einfach elf weitere, von ihm in einer handschriftlichen Aufstellung genannte
Geschichten charakterisiert werden ( s. M.Pasley: "Drei Mystifikationen Kafkas" in
Kafka-Symposion, 1965) [ s. Anhang]; ist es notwendig, darüber aufgeklärt zu
sein, um mit der Erzählung etwas anfangen zu können? Eine vergleichbare Mystifikation liegt auch bei der
Erzählung Ein Besuch im Bergwerk vor: darin werden auf ähnliche Weise zehn Beiträge
in einem Almanach des Kurt-Wolff-Verlages, der ihm wohl zugeschickt worden war, als zehn Ingenieure vorgestellt.
Was liegt näher, als diese Art von Transpositionen, Verrätselungen, an denen Kafka offenbar Spass hatte,
auch bei weiteren seiner Texte zu vermuten!