Ein letzter Komplex, der mich, da psychologieverdächtig, zwischen Deutung und Bedeutung schwanken
lässt: die Scham, die zweifellos ein Problem Kafkas war: "Es war, als sollte die Scham ihn überleben",
so lautet das Ende vom Prozess, und ihre Spuren finden sich sowohl in der
Verwandlung als auch im Brunelda-Kapitel, als Erscheinungsformen wie dem Verbergen und dem Ver- hüllen,
die zweierlei bedeuten können: Unsichtbarmachen von etwas, dessen man sich schämt, wie Gregor, der, wenn
die Schwester den Raum betritt, unter dem Kanapee von einem Leinentuch, das seinen Körper vollständig
bedeckt, vor ihren Blicken verborgen ist.
Das Verbergen kann aber auch die Bedeutung einer Täuschung oder eines Vortäuschens haben: wenn
durch eine Enthüllung ein Sachverhalt für alle sicht- bar gemacht wird, der den Autor als Hochstapler
oder Schwindler dastehen lässt. Vorhänge und Tücher sind die Hilfsmittel, um etwas unsichtbar zu
machen. So könnte man annehmen, dass auch die Verhüllungsszenen Hinweise auf Täu- schungen sind, ja
den Täuschungscharakter indirekt aussprechen, was an die bereits früher erwähnten offensichtlichen
Mystifikationen denken lässt.
Entsprechungen finden sich auch in der Brunelda-Episode: Durch Vorhänge vor der Balkontür und
den Fenstern soll verborgen werden, was in der Wohnung vorgeht; in einer Szene wird Brunelda von Delamarche mit
Tüchern vor den Blicken der anderen verborgen, und in dem Fragment Ausreise Bruneldas wird
sie – ähnlich wie es von der Familie Samsa erwogen, dann aber nicht ausgeführt wird, nämlich
Gregor in einer mit Luftlöchern versehenen Kiste aus der Wohnung zu schaffen – auf einem Krankenwagen,
verborgen unter einem grauen Tuch, von Karl geschoben "hinausgeschafft", einem Sack Äpfel zum Verwechseln gleich
(diese Sack-Äpfel-Anspielung liesse sich noch anders lesen: "Wer weiss denn, was wirklich unter dem Tuch
verborgen ist? Es kann etwas vorgetäuscht werden, es kann etwas anderes sein, als es den Anschein hat!")
Ich komme noch einmal auf die bereits früher zitierte Stelle im Bericht zurück,
an der Rotpeter erzählt, wie er eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken hat. Das Thema Rausch
klingt bereits in der Brunelda-Episode an: da ist es ein Fass mit Schnaps, das in der Wohnung bereit steht, und
Robinson trinkt anscheinend davon aus einer Parfümflasche. In welcher Beziehung steht aber der Rausch zu
dem Werk Kafkas? "Sich am geschaffenen Werk berauschen", ich denke, das
sagt tatsächlich etwas über ihn selbst aus; er spricht einmal von seiner Neigung zum Selbstgenuss, und
ich wage eine letzte Kenntlichmachung einer Mystifikation, nämlich die Gestalt Bruneldas betreffend: ihre
Körperfülle, ihr Leibes-Umfang steht für den Umfang, den das Manuskript in Form
eines Stapels vollgeschrie- bener Hefte bereits angenommen hat – gleichzeitig Ausdruck eines gesteigerten
Selbstbewusstseins und Grundlage seines "Selbstgenusses", für Kafka ein erhebender Anblick und womöglich
eine rauschhafte Erfahrung, im Bericht für eine Akademie als "ein grosser Schluck aus der Pulle"
(seit der Niederschrift des Verschollenen war noch Der Prozess (1914)
hinzugekommen!) bildlich umgesetzt.
Se non è vero, è bene trovato.