Die erste Éducation Sentimentale


    Wenn es nichts Umfasenderes gibt als den Schmerz, dann liebte er, denn seine Liebe quälte ihn wie ein Opfergang. Dies ist das Sieb für jede Empfindung: der Schmerz; nur die, welche durch ihn einer Prüfung unterzogen worden ist, verdient ihren Namen, nur diejenige hat Grösse, die durch ihn noch anwächst.
    Wo war für sie die Zeit geblieben, als das Pressen einer Hand, ein Wort am Abend zwischen zwei Türen, ein Kuss, der kaum die Lippen streifte, ihre Herzen mit einer Klarheit erfüllte, die süsser war als die Strahlen des Mondes? Sie hatten nicht mehr diese kindliche Unbeschwertheit entstehender Leidenschaften, die sich in der Nähe von Abgründen bewegt und auf den Fluten wandeln würde; früher vergingen die Stunden in einer Folge von immer gleichen Glücksmomenten, mit immer gleichem sehnsüchtigem Warten; sie hätten nicht älter werden wollen, alles war in ihnen und kam aus ihnen selbst, sie gingen völlig in ihrer Liebe auf, wandelten auf ihr, so wie Schwäne auf einem See über das Wasser glitten, ohne das Ufer zu berühren.

    Indessen waren sie aus der Notwendigkeit heraus, sich zu lieben und es sich zu versichern und mit verschwenderischen Händen mit den Schätzen ihrer Natur umzugehen, von einem unersättlichen Verlangen erfüllt, und so wie das menschliche Dasein nicht für alle Arten des Durstes das Getränk und für jeden wechselnden, ausgehungerten Appetit die Speisen zum Stillen des Hungers bereit hält, so nahmen sie ihre Lage schmerzvoll wahr. Wenn sie getrennt waren, wenn sie weit voneinander entfernt waren, dann bot sich ihnen die reziproken Vorstellungen, die sie sich voneinander machten, strahlend und von unwider- stehlichem Reiz; wenn sie aber wieder zusammenkamen, drang ihnen ein plötzliches Erstaunen darüber ins Herz, sich einfach so wiederzusehen wie eh und je und wie sie es schon tausendmal erlebt hatten. Solche uneingestandenen Desillusionierungen schlugen in neue Begierden um, die noch heftiger und verrückter waren als die früheren, so wie manchmal der Herbst im Licht des Frühlings strahlt und wie jener rötlich glühende Sonnenuntergänge hat, sowie knospende Rosen und intensive Düfte hervorbringt. Zu sehen, wie sie bei ihren langen Unterhaltungen kaum sprachen, sie zittern zu sehen, wenn ihre Blicke sich trafen, sich suchend und im nähsten Augenblick vor einander fliehend, man hätte glauben können, dass sie erst begannen, einander zu lieben, während sie über ihre Vergangenheit nachsannen und Träume über ihre Zukunft hegten. Tatsächlich erschien ihnen eine andere Zukunft, grösser, gewaltiger, unerreichbar und strahlend; und obwohl sie darüber hinaus nichts Genaueres angeben konnten, erschien ihnen in ihr alles herrlich; mit dem Vorsatz, nichts von ihr zu erwarten, würde alles, was sie bringen würde, ausserordentlich sein. Doch schwand manchmal auch ihre Zuversicht, so wie der Himmel mal entschwindet und wieder auftaucht, wenn man eine Anhöhe erklimmt, doch sie sahen ihn immer wieder und glaubten weiter an ihn.

    Die Eintönigkeit ihres Daseins, sogar die andauernde Regelmässigkeit ihres Glücks machte sie unsicher und liess in ihnen den Wunsch nach einem noch umfassenderen und weniger durch Grenzen eingeengten Glück entstehen; sie verlegten es an einen anderen Ort, in eine neue Heimat fern von ihrer jetzigen und durch tiefe Meere von allem Vergangenen getrennt.