Sie konnten nicht mehr in demselben Haus wie M.Renaud bleiben, umgeben von all den Zöglingen, wo sie in
jedem Augenblick entdeckt werden konnten, in der Gefahr, ausspioniert und schliesslich von allen an den Pranger
gestellt zu werden; die Wände bedrückten sie wie die eines Gefängnisses; auch wenn sie frei waren,
fühlten sie sich nicht frei, auch wenn sie nicht beachtet wurden, fühlten sie sich zu sehr beobachtet;
Henry sehnte sich danach, ein Mann zu sein und sich der Obhut zu entziehen, er wollte sein Leben selbst in die
Hand nehmen und es nach seinem Willen gestalten wie formbaren Ton. Die Liebe Émilies hatte ihn reifen
lassen, er errötete bei dem Gedanken, ihr unnütz zu sein und sie ohne Hingabe zu lieben; er hätte
gern für sie gearbeitet, mit seinem Geld das Bett gekauft, in dem sie schlief, und die Blumen für ihr
Bukett, und darüber hinaus träumte er von einem kraftvollen und ruhigen Dasein, in dem er der Meister
sein würde, der alles gibt, alles macht, in dem Kraft, Wohlergehen, Stolz und Liebe nur aus ihm selbst als
der einzigen Quelle hervorströmen und sie beide befriedigen würde.
Was Mme Renaud betraf, so mochte sie ihre Mitmenschen nicht, denn unter ihrem anziehenden Äusseren war sie
ein Mensch, der in Wirklichkeit nur wenige Dinge liebte; und ich glaube gern, dass sie trockenen Auges zugesehen
hätte, wenn alles, was ausserhalb ihrer Liebe war, zugrunde gegangen wäre. Aber in ihr war alles ihren
Gefühlen untergeordnet; ihn zu lieben und ihm zu folgen war fast ein Gesetz ihrer Lebensauffassung und
erschien ihr als ihre einzige Bestimmung; sie erwog weder für ihn noch für sich die Möglichkeit
anderer Erlebnisse als die, welche hinter ihnen lagen, oder dass ihr Leben auf eine andere Art eingerichtet
wäre; so wie man durch grün gefärbte Brillengläser alles in grün sieht, so sah sie alles
nur mit den Augen dieser Liebe, alles ruhte auf ihr und nahm ihre Tönung an. In ihrem Universum gab es einen
Mann; nach ihm, an zweiter Stelle, folgte der Rest der Menschheit; abgesehen von ihm konnte sie nichts Schönes
oder Gutes erkennen; er erklärte ihr das Leben, er war darin die höchste Instanz; ihr Gatte, ihre
Freundinnen, ja sogar Aglaé, ihre Pflichten, ihre Interessen, all das blieb schattenhaft gegenüber
der strahlenden Gestalt, die ihr ganzes Herz mit Licht erfüllte.
Und überhaupt: welch eine Abwesenheit jeglicher Sorge, welch Fehlen eines Interesses an sich selbst, welche
Leugnung jeglicher Individualität! sie verband das mit der Religion und betete manchmal für sie beide
zur Jungfrau, jedoch heimlich und verborgen, ohne es Henry zu gestehen, der es zweifellos als eine Schwäche
belächelt hätte. Gestand sie es sich selbst ein? denn die Anbetung eines anderen Wesens hätte
er vielleicht als ein Sakrileg aufgefasst. Wenn er sprach, schwieg sie und lauschte dem Ton seiner Stimme, so wie
man einem Gesang zuhört, ohne den Sinn der Worte zu erfassen, wenn es sich um schöne Musik handelt;
jeden Abend kam ihr der Ablauf des Tages in den Sinn, der ihm so lang vorkam wie die Erinnerung an ein ganzes Jahr,
obwohl doch dieser Tag wie eine Minute vorbeigerauscht war; sie hätte gern eines seiner Lächeln gekauft
oder einen Kuss mit ihrem Blut bezahlt. Allerdings machte sie das traurig, doch von einer heiteren Traurigkeit, die
ihr eine seltsame Kraft verlieh und von innen erstrahlte; sie hätte ihm gern als Sklavin gedient, sie betete
ihn an wie einen Gott und sah zu ihm auf wie ein Hund, damit ist alles gesagt!