Die erste Éducation Sentimentale


    Wenn in seinem tiefsten Innern ein weniger gefrässiger Hunger vorhanden war, und ihn auch weniger häufig jener Ansturm der Liebe überkam, der sein ganzes Wesen mit dem ihren verschmelzen liess, zu einer höchsten Harmonie, in der sie an die Unendlichkeit heranzureichen schienen, so stellte er überrascht fest, dass er sie auf eine andere Art und mit einer veränderten Einstellung des Herzens liebte; er empfand mehr Rücksicht, mehr Innigkeit, mehr Religion; sie erschien ihm tröstlich und festigend und als Quelle jeglichen Glücks, als das Prinzip des Lebens, das sein einziges Ziel in sich selbst hatte, das unwissentlich nachmachte, was die Menschheit auch getan hat, als sie, der Frau müde, ihre Unglück bringende Fleischlichkeit unterdrückte und sie dann, bedauernd zwar, sie aber immer noch liebend, da es ihre Bestimmung ist, in die Brust Gottes versetzte, um sie von nun an anzubeten.

    Inmitten diese Glücks tat sich jedoch eine grosse Leere auf, und in seiner Seele machte sich Unentschlossenheit breit. Wenn er von Émilie auch nichts mehr zu erwarten hatte, so erwartete er dennoch irgendetwas und hoffte auf bisher nicht erschlossene Schätze,  als wenn ihm noch nicht alles geliefert worden wäre; daher erschien ihm, obwohl die Gegenwart zauberhaft war, die Zukunft nicht weniger wie eine unerschöpfliche Goldader, wobei das letzte Wort erst noch gesprochen würde; jede Stunde sei schön, doch schwang am Grunde dieser Liebesseligkeit ein einzigartiges Bedauern wegen der soeben verflos- senen mit, die nicht wiederkehren würde.
    Wer gibt mir den Klang der Glocke zurück, die gestern im Morgengrauen ertönte, und das Zwitschern der Vögel, die an jenem Morgen in den Eichen ihren Gesang anstimmten! und dennoch langweilte ich mich beim Sonnenuntergang und gähnte vor Müdigkeit bei ihrem Aufgang!

    Er bewunderte sie dafür, dass sie immer noch frei von Überdruss und von einer so reinen Natürlichkeit war, und da er nicht die Eigenschaft besass und zu einer solchen Abgeklärtheit oder Gleichgültigkeit fähig war, setzte er sich in seiner Selbsteinschätzung herab und war unglücklich darüber, nicht an sie heran- zureichen; vielleicht beneidete er sie auch, ganz sicher aber war er voller Bewunderung.
    Berücksichtigt auch, dass die Seekrankheit nicht dazu angetan ist, euch auf heitere Gedanken zu bringen, sondern dass man eher dazu neigt, alles in Schwarz zu sehen, wenn man Galle spuckt.
    Die Kabine, in der sie schliefen, hatte zwei Kojen; die Henrys war so eng, dass er sich kaum umdrehen und die Beine ausstrecken konnte. Zum Glück gab es auf dem Boden eine Matratze oder ein Ruhebett, auf das er sich, um seine Lage zu ändern, legen konnte, und da geschah es häufig, sei es dass die über ihren Köpfen hängende Lampe ihr bleiches gelbliches Licht auf sie warf, sei es, dass der auf dem Wasser glitzernde Mond durch das Bullauge aus dickem weissen Glas, das dem Wasser trotzte, hereindrang, oder sei es, dass die Mittagssonne, die unbarmherzig von der Höhe des Himmels herab schien, den Vorhang der Luke erwärmte und auf ihrem Boden die Rosette nachzeichnete, die darauf gemalt war, dort, so versichere ich euch, lieber Leser, fand er sie sehr häufig weder ruhig noch ausgeglichen, erschien sie ihm keineswegs so festigend, und er fühlte sich nicht im geringsten der Frau müde oder elend in seiner körperlichen Verfassung.