Die erste Éducation Sentimentale


    Er gehorchte, und und da er nicht wusste, was er zu ihr sagen könnte, blieb sein Mund geschlossen. Mme Émilie stand aufrecht und betrachtete seine Haare und seine Stirn.
  – Arbeiten Sie denn immer? fuhr sie fort, Sie gehen nie aus; Sie haben wahrlich eine... bemerkenswerte Einstellung für einen jungen Mann.
  – Finden Sie? entgegnete Henry, und bemühte sich, dabei kühl zu wirken.
  – Man könnte jedenfalls den Eindruck haben, sagte sie mit einem Augen- aufschlag, wobei sie ihm einen seltsamen Blick unter den langen engstehenden Wimpern zuwarf, ein charmantes Mienenspiel ihres Gesichtes, bei dem sie immer den Kopf ein wenig über die Schulter beugte und ihre Lippen ein wenig anhob.
  – Amüsieren Sie sich denn nie? Sie werden sich übermüden.
  – Wozu denn mich amüsieren, wozu denn mich amüsieren, wiederholte er, der sich selbst bemitleidete und mehr an eine Frage als an eine Antwort dachte.
  – Macht Ihnen denn nichts anderes Spass als Ihre Bücher?
  – Nicht mehr als irgendetwas anderes.
  – Ah, Sie geben sich als abgeklärt, sagte sie lachend, sind Sie etwa schon so sehr vom Leben angeekelt? Sie sind doch noch so jung!... Mit Verlaub, ich habe ein Recht, mich zu beklagen, ich bin älter und habe mehr gelitten als Sie, glauben Sie mir!
  – Nein.
  – Aber ja doch, sagte sie seufzend, wobei sie die Augen zum Himmel hob, ich habe im Leben viel leiden müssen – und dabei fröstelte ihr, als empfände sie erneut den Schmerz bitterer Erinnerungen – ein Mann ist immer weniger unglücklich als eine Frau, eine Frau... eine arme Frau!
    Bei diesen letzten Worten hielt ein Schlüssel, den sie in den Händen hielt und ununterbrochen mit ihrem Zeigefinger herumgedreht hatte, ganz plötzlich in seiner Drehung inne, wurde mit einer ruckartigen Bewegung von den fünf hübschen Fingern der Mme Renaud geschüttelt.
    Es war eine vielleicht etwas fleischige Hand, dazu auch zu kurz, jedoch langsam in ihren Bewegungen, mit Grübchen an den Fingerwurzeln, warm und drall, rosig, weich, fettig und süss, aristokratisch, eine empfindsame Hand; Henrys Augen wurden ausserordentlich von ihr angezogen; er verfolgte nachein- ander die zwei Linien, die vom Daumen aus abwechselnd zu jedem Finger führten; er betrachtete neugierig die etwas bleiche Färbung dieser feinen Haut mit den kleinen, ja winzigen bläulichen Äderchen, die an bestimmten Stellen sichtbar waren.
    Mme Renaud ihrerseits betrachtete sein volles kastanienbraunes Haar, das in Überfülle auf seine Schultern fiel, mit einer völlig naiven Nachdenklichkeit.
Woran denken sie nur, der eine wie die andere? Soeben erst hatten sie miteinander gesprochen, und nun schweigen sie bereits; hier war das Gespräch abgebrochen.