Mme GOSSELIN mit einem unaussprechlichen Ausdruck – Victor Hugo! Victor Hugo!
M.GOSSELIN vornehm zu M.Renaud – Sie lassen zu, dass Ihre Schüler Victor Hugo
lesen, hier bei Ihnen?
M.RENAUD – Aber Monsieur...
M.GOSSELIN angewidert – Kein Monsieur, das reicht! (Zu sich selbst)
Das erstaunt mich nicht mehr... so eine Unmoral!
Mme GOSSELIN – Mein Freund, wird in diesem Buch nicht ein Priester dargestellt, der...
M.GOSSELIN – Ja, das ist genau dieses Buch.
Mme GOSSELIN – Und sie hat ihm das zu lesen gegeben!
M.GOSSELIN sehr langsam – Sie haben es zugelassen? Das ist ist ausge- zeichnet, das
ist ganz ausgezeichnet, Monsieur, ich sage nichts mehr, es erstaunt mich nichts mehr...
– Was? an mich gerichtet? rief er plötzlich aus.
Und er nahm ein Blatt Papier auf, das ganz offen auf dem Tisch lag, das sie jedoch bis dahin übersehen
hatten; darauf las er diese Zeilen:
"Entschuldigt, verzeiht mir, es musste sein, ihr werdet von mir hören. Ich werde euch mitteilen, wo ich mich
befinde und was ich mache. Seid wegen mir unbesorgt, ich werde euch schreiben. Adieu. Euer Sohn, der euch liebt.
HENRY."
Mme Gosselin stürzte sich auf das Blatt und las es zwanzigmal, die unge- wohnte Kürze erschreckte
sie, und während ihre Unruhe davon gedämpft werden sollte, flösste die brennende Neugier, die
von ihm geweckt wurde, ihr neue, nicht weniger lebhafte Ängste ein.
– Wir erfahren damit nichts Neues, sagte Morel; wir müssen abwarten, er will nicht, dass wir
erfahren, wohin sie abgereist sind; uns kommt es zu, das heraus- zufinden, Ihre Sache ist es, M.Renaud, sie dazu
zu bewegen, zurückzukommen.
M.GOSSELIN und Mme GOSSELIN gleichzeitig redend – Ja, das ist Ihre Sache, M.Renaud,
dafür zu sorgen, dass sie zurückkommen.
M.RENAUD – Aber...
M.GOSSELIN – Bis morgen, Monsieur, wir werden Sie wieder beehren.
M.Renaud besitzt die Höflichkeit, sie hinunter zu begleiten, er öffnet ihnen das grosse
Tor, schliesst es wieder mit einem tiefen Seufzer und kehrt zum Nach- denken in das kleine Vorzimmer zurück,
in dem sie kurz zuvor gewesen waren.
Er hat sich hingesetzt, er schaut auf den Boden, er denkt nach; alles ist ruhig, kein Laut ist zu
vernehmen, die geografischen Karten und die Anschauungstafeln mit den Völkern der ganzen Erde sind noch an
ihren Plätzen; im oberen Stockwerk arbeiten die Schüler in ihren Zimmern. Das Abendessen wird
vorbereitet, die Tür zur Küche ist nicht geschlossen, in den Töpfen brodelt es, der Suppentopf
köchelt vor sich hin.
Indessen öffnet die Tür sich halb, eine Frau erscheint, der Vater Renaud hebt den Kopf.
Catherine ist im Korsett, ohne Schultertuch, ohne Kittel, mit Latschen an den Füssen und einem Tuch
über dem Kopf, mit grossen goldenen Ohrringen; ihr Rock fällt ihr bis zu den in blauen Strümpfen
steckenden Waden, und der Ärmel ihres Hemdes reicht bis knapp unter die Achseln; ihre Arme sind nackt, ihr
festes Fleisch ist von einer Frische, gerötet, fast blutrot, an den Handgelenken ange- schwollen, wobei die
von kochendem Wasser bespritzte, gleichzeitig vom Fett gestraffte Haut fast aufzuplatzen scheint. Ihr Gesicht
lächelt, es ist ein weisses Gesicht, die vollen Wangen etwas bleich, die Nase hochgestülpt, die Lippen
feucht; ihre Augen sind von einem hellen Blau und die beiden kleinen Haarwickel, die unter ihrer Frisur
hervorschauen, sind aschblond. Sie ist auf der Schwelle stehengeblieben.