Die erste Éducation Sentimentale


    Wo wäre er ohne sie? wenn er ihr nicht eines Tages begegnet wäre, was hätte er dann getan? welche anderen Wendungen des Schicksals hätte es in seinem Leben gegeben? wehalb hatte er sie so sehr geliebt? woher kam diese tägliche Verzauberung? war es eine Schwäche seinerseits, oder eine mächtige Kraft ihrerseits? Allerdings, sagte er sich, liebte er sie immer noch, er spürte sie, so wie man spürt, dass man atmet; doch wenn er sie weiterhin liebte, warum zweifelte er manchmal daran und hatte all diese Ängste? Dann versuchte er, ihrer Herr zu werden und sie von neuem mit all den früheren Gefühlen, mit seiner anfänglichen Schüchternheit und all dem Prickeln des ersten Aufblühens anzubeten.
    Dann hatte er wiederkehrende Triebwallungen, wie sie alte Männer bekommen, stürmisch und heftig wie ein letzter Schluck aus dem Glas, den ein Verzweifelter herunterstürzt, das letzte Auflodern einer Orgie des Herzens, das seinen letzten Überschwang krönt; er lieferte sich ganz aus und verausgabte sich bis zur Trunkenheit, wobei er sogar neue Verwirrungen, die von Abscheu und von Verdruss, kennenlernte; das, was ihn hatte verzweifeln lassen, reizte ihn, was ihn kalt gelassen hatte, entflammte ihn, je mehr sie ihm oberflächlich und ohne Geheimnisse erschien war, je mehr ihre Liebe ihn eben noch ermüdet hatte, jetzt wollte er aus der erneuerten und verjüngten Vergangenheit unbekannte Genüsse ziehen und noch nicht ausprobierte Rauschzustände erreichen. Wenn er den Körper der Frau fest an sich drückte und er dabei jedesmal hoffte, dass dadurch vielleicht eine andere Art Wollust entstehen würde, oder wenn er sich in dieselbe stürzte, um sie noch tiefer auszukosten, wurde seine Seele von ausgefallenen Wünschen heimgesucht, und er hätte sich eine anders gestaltete Welt herbei- gewünscht, die auf der Stelle seine neuartigen Gelüste befriedigen sollte, in der ihm ihre starren Augen wie glühende Kohlen erschienen, ihre Arme, sich plötzlich verlängernd, ihn in übermenschlichen Umarmungen einschnüren, ihre geschlos- ssenen Schenkel ihn wie eine Schlange umschlingen, ihre Zähne aus Marmor ihm bis ins Herz eindringen und sie ihm in all ihrer Schönheit Angst einflössen würde. Er rief die Raserei des Fleisches zur Hilfe, sie stellte sich ein, versetzte ihn in einen Schwindel und erstickte seine Schreie, und wenn er vor Erschöpfung eingeschlafen war und seine ermatteten Sinne nicht mehr reagierten, hielt er diese Schlaffheit für eine sanfte Wollust und die Ausschweifungen für Liebe.

    Ich weiss nicht, was für eine Traurigkeit ihn am nächsten Morgen befiel, doch verspürte er nicht diese Heiterkeit, die auf die Erfüllung gewöhnlicher Genüsse folgen, vielmehr kehrte sein Überdruss zurück. Sie war immer noch dieselbe Frau, er war immer noch derselbe Mann, in ihnen war nichts verändert, und doch hatte sich alles verändert. Woher kam diese namenlose Verwunderung, die sich zwischen sie legte wie um sie voneinander zu entfernen? Nie hatten die Schwermut, die mit der Erinnerung an schöne Tage einhergeht, oder die mürrische Stumpfheit, die sich nach Exzessen einstellt, zu solchen plötzlichen Abkühlungen geführt, die ihn völlig überraschten; gleichzeitig war er erstaunt über den Unterschied, der zwischen seiner Liebe von früher und seiner jetzigen eingetreten war, sowie über den unendlichen Abstand, den eine einzige Nacht zwischen den gestrigen Tag und den heutigen Morgen, zwischen die Erregung des Vorabends und die gegenwärtige Stille gelegt hat, als dessen Grund es eine unerklärliche Ursache zu geben schien, so dass er an eine ungreifbare Verwandlung glaubte und fast darüber erstaunt war, wenn er sich mit demselben Gesicht wiederfand.