Die erste Éducation Sentimentale


    Also las er ihn Émilie vor – er hätte ihn den Bordsteinen der Strasse oder den Fliesen seines Zimmers vorlesen können! – das heisst, er gab ihn ihr, damit sie ihn selbst las, da er nicht die Kraft besass, seine Lippen zu bewegen. Émilie öffnete ihn also, Henry folgte ihr mit den Augen; er beobachtete, wie sie Zeile für Zeile las und wartete ungeduldig darauf, was sie sagen, was für einen Schrei sie ausstossen würde, um laut das Gefühl zum Ausdruck zu bringen, das ihr den Atem nähme, doch er konnte in ihrem Gesicht kein Anzeichen eines Verständ- nisses entdecken; nicht ein Muskel, der sich bewegte, kein Seufzer, der ihre Brust weitete, kein Wort, keine Träne, nicht einmal jenes traurige unterdrückte Lächeln ihres Mundes; sie atmete ruhig und fuhr fort zu lesen.

    Als sie geendet hatte, faltete sie die Blätter wieder auf dieselbe Weise zusammen, wie sie vorher waren, und steckte sie zurück in den Umschlag.
  – Armer Kerl! sagte sie in einem klagenden und mitleidigen Ton, als sie das Päckchen Henry zurückgab; er scheint wirklich bedauernswert zu sein!
    Und sie richtete ihre grossen schwarzen Augen zärtlich auf ihn.
    Stumm vor Überraschung, bleich und mit trockenem Blick suchte Henry in ihren Pupillen jenen Strahl von Mitgefühl, der die Herzen erwärmt; sprachlos angesichts ihres Schweigens betrachtete er sie, ohne etwas zu sagen, so wie man mit einem überraschten Schreck auf die leere Kassette blickt, in der sich ein Schmuck befand. Nichts mehr! Nichts! da war immer noch dieser ewige sanfte und einfältige Gesichtsausdruck, dieses selbe Lächeln der weissen Zähne! Verstand sie denn nichts? fühlte sie denn nichts? Doch welche geistige und gefühlsmässige Enge, welches Ausmass an Grausamkeit oder an Beschränktheit in der beiläufigen Bekundung ihres Zartgefühls gegenüber jenem selbstbezo- genen Unbekannten doch lag, der sich mit schwülstigen Phrasen über seine eingebildeten Fehler ausliess!
    Und er rückte von ihr weg, eine schreckliche Versuchung erfasste ihn, sie zu schlagen, sie zum Weinen zu bringen, einen Aufschrei von ihr zu hören und wenigstens einmal im Leben zu sehen, wie ihr Gesicht einen anderen Ausdruck annahm. Er wollte ihr seine Meinung sagen, doch die Vergeblichkeit schnürte ihm die Kehle zu und hinderte ihn daran zu sprechen; er suchte nach einem Satz, einem fürchterlichen Satz, – eine nutzlose Mühe! es blieb alles in ihm stecken; das, was herausgeschleudert werden sollte, konnte nicht heraus, fiel nach innen zurück und frass in ihm ein Loch wie ein Stück Kohle ohne Flamme.
   Was machte er also? Er schlug Mme Renaud einen Spaziergang vor; das Wetter war ausgezeichnet, sie nahm Hut und Schal und sie gingen zusammen hinaus.
    Von dem Tag an war für unseren Helden alles aus; er wusste es und gestand es sich ein, ohne davon betroffen zu sein.