Die erste Éducation Sentimentale


    Nun dachte er an all die verflossenen Tage, die sich untereinander mehr unterschieden als die Gesichter in einer Menge, die man an sich vorbeiziehen sieht, und verglich sie mit der vor seinen Augen ausgebreiteten Natur. Er war über ihre heitere Unwandelbarkeit erstaunt und bewunderte in seinem Innern ihre sanfte und friedliche Grossartigkeit. Die Blumen wuchsen in den Spalten der alten Mauern; je älter die Ruinen sind, umso mehr breiten sie sich auf ihnen aus, doch ist es keineswegs so inmitten der Ruinen des menschlichen Herzens, auf seinen Trümmern erblüht kein Frühling. Auf den Schlachtfeldern spriesst wieder das Grün, Klatschmohn und Rosen wachsen um die Gräber herum, die sich, indem sie sich ihrerseits selbst begraben, am Ende unter der Erde verbergen; das Denken besitzt diesen Vorzug nicht, es erforscht selbst seine Ewigkeit und erschrickt, so wie ein König, der an seinen Thron gefesselt ist und ihm nicht entfliehen kann.

    Welch ein sonderbares Gefühl man für den Boden hat, den man tritt! Es ist, als hinterliesse jeder unserer früheren Schritte eine unauslöschliche Spur, und als gingen wir, indem wir zu ihnen zurückkehren, auf Bodenreliefs, auf denen die Geschichte dieser verflossenen Zeiten aufgeschrieben ist und die sich nun vor uns erheben.
    Erschrocken über die Treue seiner Erinnerungen, die mit dem Aufsuchen jener Orte, mit denen sie gefühlsmässig verbunden waren, noch lebendiger wurden, fragte er sich, ob sie alle nur zu ein und demselben Menschen gehörten, ob nur ein Leben dazu ausreichte, und er versuchte sie mit einer anderen verlorenen Existenz in Verbindung zu bringen, so weit hatte er sich von seiner Vergangenheit entfernt! Er betrachtete sich selbst mit Erstaunen, wenn er an all die unterschiedlichen Ideen dachte, die ihm bei ein und denselben Grenzsteinen und bei dem selben Buschwerk gekommen waren, bei den Liebesaufbrüchen, die er erlebt hatte, dem Zusammenschrumpfen vor Trostlosigkeit, das er durch- gemacht hatte, wobei er nicht mehr deutlich die Ursachen erkannte, von denen es hervorgerufen worden war, ebensowenig wie die Übergänge, die sie untereinander verbanden; er konnte in sich nur unerforschtes Elend und dunkle Tiefen entdecken, grundlose Bitterkeiten, Schwächeanfälle und Zornesausbrüche ohne Vernunft, melancholische Freuden und unaussprechliche Sehnsüchte, eine Verwirrung, eine ganze Welt, deren Geheimnis nicht zu ergründen war, die Einheit, die mit einem unbestimmten Schmerz über allem waltete. Man ist erstaunt, dass ein Skelett einmal Leben hatte, dass aus diesen Augenhöhlen einmal liebevolle Blicke kamen; doch man ist manchmal auch darüber erstaunt, dass unser Herz einmal etwas besessen hat, was es nicht mehr besitzt, und dass es durch Triebe in melodische Schwingungen versetzt wurde, deren Echo es nicht mehr wahrnimmt.

    Die Ruhe, in der Jules aus Egoismus und aus blankem Hochmut, in den er sich mit einem Kraftakt des Stolzes geflüchtet hatte, leben wollte, hatte ihn so gewaltsam von seiner Jugend entfernt und ihm einen so herben und unbeugsamen Willen abverlangt, dass er sich gegen Weichheit abgehärtet hatte und sein Herz fast zu Stein werden liess. Indem er seine Empfindung durch seine Vorstellung abwandelte, suchte er zu erreichen, dass sein Geist ihre Auswirkungen auslöschte und die Unmittelbarkeit des Gefühls ebenso schnell verflog wie sie selbst.