Die erste Éducation Sentimentale


    Indessen ergab sich aus alledem sein gegenwärtiger Zustand, der die Summe von allem Vorangegangenen war und der ihm erlaubte, es sich zu vergegenwärtigen; jedes Ereignis hatte ein zweites hervorgebracht, jede Empfindung beruhte auf einem Gedanken. Er hatte zum Beispiel aus der Wollust, die er nicht mehr verspürte, Theorien abgeleitet, und diese stellten soetwas wie die Schlussfolgerung aus Gegebenheiten dar; wenn sie falsch war, dann lag es daran, dass sie unvollständig war; wenn sie zu eingeschränkt war, dann musste sie erweitert werden. Es gab also in dieser Kette von unterschiedlichen Wahrnehmungen eine Schlussfolgerung und eine Folge, es war ein Problem, bei dem jeder Schritt zur Auflösung eine Teillösung ist.

    Doch wenn das letzte Wort nie gesprochen wird, wozu dann darauf warten? Kann man es nicht im Voraus erahnen? Und gibt es auf der Welt nicht irgend- einen Weg, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen? Wenn die Kunst für ihn dieses Mittel war, dann musste er er es ergreifen. Und hätte er auch diese Vor- stellung von Kunst gehabt, von der reinen Kunst, ohne die schmerzhaften Vorbereitungen, und wäre er noch in die Beschäftigung mit dem Abgeschlos- senen verstrickt? Wer die Wunden der Menschen heilen will, gewöhnt sich an ihren Geruch, und der Matrose härtet seine Hände ab, wenn er das Ruder umfasst; wer das menschliche Herz als seine Domäne hat, muss sich an empfindlichen Stellen panzern und sein Gesicht mit einem Visier schützen, um in dem Brand, den er entfacht, in Ruhe leben zu können, um unverwundbar zu sein in der Schlacht, die er beobachtet; wer immer in die Handlung verstrickt ist, übersieht nicht das Gesamte, der Spieler spürt nicht die Poesie des Spiels, die in ihm ist, ebenso wenig wie der Wüstling die Grossartigkeit der Schlemmerei, der Liebende das Lyrische der Liebe oder der Klosterbruder vielleicht die wahre Grösse der Religion. Wenn jede Leidenschaft, jede machtvolle Vorstellung vom Leben ein Kreis ist, in dem wir uns drehen, um seinen Umfang und seine Fläche zu erfassen, dann sollte man nicht darin eingeschlossen bleiben, sondern aus ihm ausbrechen.
    Im Übrigen sagte er sich, um sich zu rechtfertigen, wenn er einen Zeit- abschnitt seines Daseins verleugnete, erweist man sich damit nicht als ebenso beschränkt wie der Historiker, der eine historische Epoche verleugnet, der einen Abschnitt hervorhebt, einen anderen geringschätzt, ein Volk preist, eine Rasse schmäht, der sich an die Stelle der Vorsehnung setzt und ihr Werk neu erschaffen will? Alles, was er empfunden, verspürt, durchlitten hatte, war also vielleicht für unbekannte Zwecke geschehen, für ein feststehendes und immer gleiches, ein unerwartetes, aber reelles Ziel.
    So überlegte er sich, dass alles, was ihm früher so elendig erschienen war, sehr wohl von einer Schönheit und Harmonie sein konnte; indem er es in einer Synthese auf absolute Prinzipien zurückführte, entdeckte er darin eine an ein Wunder grenzende Symmetrie allein in der periodischen Wiederkehr der immer gleichen Gedanken über immer dieselben Dinge, derselben Empfindungen bei denselben Tatsachen; die Natur vollführte dieses Konzert, und es schien ihm so, dass die ganze Welt die Unendlickeit hervorbrachte und eine Widerspiegelung des Antlitzes Gottes war;