Jede Epoche verlor für ihn etwas von der besonderen Färbung, mit der man sie gewöhnlich wahrnimmt;
was an ihr trocken und künstlich erscheint, macht einem eher schillernden und wechselhaften Charakter Platz,
der die Unter- schiede, die zwischen den Epochen festzustellen sind, abschwächt und die Übergänge
von der einen zu einer anderen, ihre Ursprünge und Folgen, verdeut- licht. Als er nun manchmal in
wilden Herzen auch Anwandlungen von Sanftheit und befremdliche Grausamkeiten in Blicken entdeckte, die besonders
sanft zu sein schienen, die in ernsten Dingen das Lächerliche hervorhoben oder beim Anhören eines ganz
einfachen Satzes sogleich ein Drama daraus machen, musste er dank der Geschichte und der Kritik viele vorgefasste
Ansichten, bequeme Annahmen und allen gemeinsame Überzeugungen aufgeben.
Doch die Nachwelt, die alles überschaubar betrachtet und klare Ansichten haben will, die sich mit einem
Wort ausdrücken lassen, nimmt sich nicht die Zeit, all dessen zu gedenken, was sie unterdrückt, vergessen
und weggelassen hat; sie greift nur die hervorstechendsten Züge der Dinge auf, um sie dann, auf die Gefahr
hin, sie zusammenhanglos und absurd erscheinen zu lassen, unter einem einzelnen Merkmal zu vereinen und mit einem
einzigen Ausdruck zu versehen. Jules verfiel fast in das entgegengesetzte Extrem, als er täglich die
Falschheit der von der Allgemeinheit vertretenen Meinungen, ihre albernen Verherr- lichungen und schwachsinnigen
Gehässigkeiten sah, und er hätte bewundert, was die Menge verachtete, und verabscheut, was sie gut fand;
wenn er nicht häufig eine praktische Nützlichkeit für die Zukunft mehr oder weniger richtiger Ideen,
die sie sich über die Vergangenheit macht, fetgestellt hätte. Diese Ideen haben ihre Bedeutung in sich,
da sie ihrerseits Tatsachen nach sich ziehen. Was bedeutet es, dass 93 Sparta nicht richtig verstanden hat, wenn
man davon ausgeht, das man glaubte, es zu imitieren?
Als er ein wenig das XVIte Jahrhundert studiert hatte, sah er darin etwas anderes als gefaltete Halskrausen; ebenso
sah er im XVIIten etwas anderes als mächtige Perücken, und das XVIIIte betrachtete er, ohne immer nur die
Höflinge und die Marquisen zu sehen. Er ergötzte sich daran, inmitten des ehrwürdigen Jahrhunderts
Ludwigs des XIVten Saint-Amant und Chaulieu lachen zu hören und Gassendi vor Port-Royal lustwandeln zu sehen;
wie er auch bedachte, dass das Jahrhundert Ludwigs des XVten, dem man unablässig seine Leichtlebigkeit, seine
Gottlosigkeit und seine ausgelassenen Liebesaffären vorwirft, mit La Bruyère und La Sage begonnen,
Saint-Preux und den Werther hervorgebracht und schliesslich mit René geendet hatte. Zweifellos eine Epoche
des Szkeptizismus, die neue Enthousiasmen hervorgebracht, Welten die Freiheit gegeben und die Intelligenz befreit
hat!
Als Jules beispielsweise erfuhr, dass der verweichlichte Henri der IIIte der Mlle de Valençay aus Polen mit
seinem Blut geschriebene Briefe schickte, dass Nero im Augenblick seines Todes über den Verlust eines Amuletts
jammerte, das seine Mutter ihm gegeben hatte, oder dass Turenne sich in der Dunkelheit fürchtete und der
Marschall von Sachsen einen Horror vor Katzen hatte, dann hielt er erstaunt voller Bewunderung oder Mitleid inne,
doch das Erstaunen hielt nicht lange an, und aus der Bewunderung wurde Verständnis und aus dem Mitleid
Nachsicht.