Die erste Éducation Sentimentale


    Unsere Natur bedrängt uns, wir werden von ihr erdrückt, wir wollen ihr entkommen, und unsere Seele, die unter ihr leidet, sprengt ihre Fesseln wie eine Menge, die sich in einem zu engen Raum eingesperrt fühlt; man schwelgt mit Lust im Zügellosen und Absonderlichen; man setzt sich eine Maske auf, man läuft, schreit, brüllt, treibt in den Wahn und in Wildheit; man lacht über seine Hässlichkeit, sielt sich im Abstossenden, so wie auch der sich selbst kasteiende Pilger, der ausgezehrt ist vom Fasten und unter dem Büsserhemd blutet, bei jedem Schlag, mit dem er seinen Körper peinigt, den Stachel der Wollust spürt und vor Liebe fast ohnmächtig wird, wenn er sieht, wie sich über seinem Kopf die Himmel mit den Engeln mit weissen Flügeln und mit den Seraphim mit ihren goldenen Harfen öffnen. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, versteht der Mensch sich selbst nicht mehr, sein eigener Verstand macht ihm Angst, seine Träume stossen ihn ab, er fragt sich, wozu er diese Dschinns und diese Vampire geschaffen hat, wohin die Geier ihn auf ihren Rücken tragen sollten, in welchem Fieber des Fleisches er Phalli mit Flügeln ausgestattet und in welchen angsterfüllten Stunden er sich die Hölle ausgedacht hat.

    Wenn man es als einen Ausdruck des innersten Wesens unserer Seele versteht, als einen Überfluss an Moralität, dann hat das Phantastische in der Kunst seinen Platz, die Skeptischsten und die grössten Spötter haben sich ihrer bedient, und all die Schwäche einiger hatte nur den einzigen Grund, dass sie es nicht fühlen und ausdrücken konnten. Was denjenigen angeht, der aus Unfähig- keit, seine Vorstellung in einer realen, menschlichen Form zum Ausdruck zu bringen, für die Phantasie des Künstlers Partei ergreift, den zeichnet im Allgemeinen eine geringe geistige Weite sowie eine grössere Armut der Vorstellungskraft aus, als man gemeinhin annimmt; tatsächlich erblickt die Vorstellung keine Schimären, sie hat ihr Positives so wie Ihr das Eure habt, sie quält sich und wendet sich dem Kindlichen zu, sie ist erst zufrieden, wenn sie ihm eine reale, anfassbare, haltbare, wägbare, unzerstörbare Existenz gegeben hat.
    Dann erwärmte er sich über alle Massen für jene wenigen Männer, die noch über den allergrössten standen, die stärker waren als die Stärksten, in denen sich das Unendliche spiegelte, so wie der Himmel sich im Meer spiegelt; doch je mehr er ihre Werke betrachtete, umso grösser erschienen sie ihm in seiner Vorstellung, so wie die Berge, wenn man sie erklimmen will, noch grösser werden; wenn er glaubte, sie zu verstehen, und von ihnen erdrückt wurde, packte ihn ein Schwindel, und er wollte nicht glauben, dass ein Mensch so gross sein könnte.
    Wussten sie eigentlich, was sie waren, spürten sie selbst bis ins Tiefste, was sie taten, diese Unsterblichen, von denen die Rede ist? Zunächst erreichten die Wirrnisse des Lebens sie nicht; sie schrieben ihre Liebesgedichte in tiefen Verliesen, sie verfassten ihre Verse beim Gang in den Tod, sie sangen noch in ihrem Todeskampf, das Elend machte sie nicht zu Elenden, die Sklaverei erniedrigte sie nicht, sie hätten ihre Schmerzen vor der Welt ausbreiten und sie mit dem Schauspiel ihres Herzens belustigen können.