Die erste Éducation Sentimentale


    So machte er sich auch auf die Suche nach dem Wagemut, den die Schwachen zeigten, sowie nach der Verzagtheit, die die Tapferen befiel, er untersuchte die praktische Entschlossenheit der Bösewichte, und er lachte über die von den Rechtschaffenen begangenen Verbrechen. Diese fortwährende Gleichheit der Menschen, worin sie besteht und wo auch immer man sie antrifft, erschien ihm als eine Gerechtigkeit, die seinen Stolz minderte, ihn über seine inneren Erniedrigungen hinwegtröstete, ihm am Ende seinen wahren Charakter als Mensch gab und ihn wieder auf seinen Platz rückte.
    Nachdem die Welt für ihn als Betrachter so gross geworden war, stellte er fest, dass es, was die Kunst anging, nichts, weder eine Wirklichkeit, noch eine Möglichkeit zu existieren ausserhalb ihrer Grenzen gab. Deshalb erschien ihm die Phantasie, die er früher als ein riesiges Königreich auf dem Kontinent der Poesie gehalten hatte, nur noch wie eine Provinz; er sah ein, dass man nichts an Schönem erschaffen kann, indem man Lebewesen erfindet, die es nicht gibt, Pflanzen, die nicht existieren, indem man ein Pferd mit Flügeln und Frauenkörper mit Fischschwänzen ausstattet, allesamt unmögliche Existenzen, ungreifbare Vorstellungen, körperlose Träume, die nur in einer Gestalt nach dem Wunsch dessen, der sie erschafft, erscheinen, dann aber eine wie die andere in ihrer Unbeweglichkeit und ihrer Machtlosigkeit isoliert bleiben. Man muss es allerdings akzeptieren, dieses Übernatürliche, das am Anfang der Kunst eines Volkes steht und das man an seinem Ende wiederfindet, so wie zwei geheimnisvolle Skulpturen, die an seiner Wiege und an seinem Grab errichtet worden sind; die ersten Schöpfungen des Menschen waren dadurch gekennzeichnet, es lebt weiter in seinen reifsten Werken, es verwandelt sich und durchdringt noch seine letzten. Zuerst erscheint es in Indien, das sich nicht von ihm losgesagt hat; dann vermenschlicht es sich in Griechenland, wird weitergegeben an die römischen Kunst, belebt sie durch übermütige Einfälle oder entzündet ihre Empfindsamkeit, wird schrecklich im Mittelalter, überzogen in der Renaissance und vermischt sich schliesslich mit der schwindelerregenden Gedankenwelt, die die Seelen Fausts und Manfreds beherrscht.

    Zweifellos sollte es etwas ausdrücken, was da in Form einer monströsen Sphinx in Granit gehauen im Wüstensand liegt. Zu welchem Horizont blicken die abgründigen Augen der Götterstatuen aus den Tiefen ihrer Pagoden? was bedeutet ihr trunkenes Lächeln? und wonach greifen all die zahlreichen Arme, die von ihrem Körper ausgehen? man kann sie noch so lange betrachten, doch kein Mensch wird ergründen, was sie sagen wollen.
    Tauchen nicht in gewissen Augenblicken der Menschheit wie auch des Einzelnen unerklärliche Kräfte auf, die sich in fremdartige Gestalten umsetzen? da reicht die gewöhnliche Sprache nicht aus; weder Marmor noch Worte können Behälter für das sein, was unaussprechlich ist, können diese sonderbaren Gelüste befriedigen, die nie zu sättigen sind; es gibt ein Bedürfnis nach allem, was es nicht gibt, alles, was es gibt, ist unnütz: sei es aus Lebensgier, um sie im Augenblick zu verdoppeln und über sich selbst hinaus zu verewigen; sei es aus einem Verlangen nach dem Unendlichen, um schneller zu ihm zurückzukehren, aus übermütiger Freude oder aus einer Laune der Hoffnungslosigkeit.