Die erste Éducation Sentimentale


    Er hegte weder besondere Hassgefühle gegen irgend jemanden, noch ausgesprochene Sympathien für wen auch immer; allerdings betrachtete er viele Leute als seine Freunde, auf die er nicht zählte, er traf sich sogar gern mit ihnen und unterhielt sich mit ihnen, doch es wäre ihm unangenehm gewesen, sie zu häufig zu sehen, und nach einer Stunde fiel ihm nichts mehr ein, worüber er mit ihnen reden könnte.
    Wenn ein Fahrzeug jemanden auf der Strasse überfuhr, dann war er ehrlich betroffen und bedauerte das Opfer, doch eilte er nicht hinzu, um ihm aufzuhelfen; allerdings schlug es ihm auf den Magen und er gab gern fünf Francs, wenn für die Witwe und die zu Waisen gewordenen Kinder gesammelt wurde, während andere nur vierzig Sous gaben.
    Er mochte Leute nicht, die sich mit Eau-de-vie betranken, da er den Wein vorzog, den Pfeifenqualm fand er zu stark, da er Zigaretten rauchte; auch las er Lamartine, wenn er bedrückt war, und Molière, wenn er lachen wollte.
    Er nahm alles ernst und identifizierte sich mit den Gegebenheiten; er liess sich von ihnen leiten und machte sie sich so zunutze. Wenn ihm eine Sache misslang, dann schob er den Fehler auf den Zufall; wenn er Erfolg hatte, dann verbuchte er ihn als sein Verdienst; er hatte in der Tat beobachtet, wie wenig der Mensch frei über sich verfügen kann und welche Kraft er andererseits aus seiner Energie und seiner Willenskraft ziehen kann.

    Er betete das Genie nicht an, doch er fand nichts dabei, grosse Männer zu bewundern, wobei er ihre Grösse der Natur zuschrieb; zwar pflegte er keine Liebe zu Helden, doch ihre herausragenden Taten fügte er seinem Stolz hinzu. Eine komische Sache! er machte sich über Begeisterung lustig und schreckte vor dem Skeptizismus zurück; er hatte kein Verständnis für Menschen, die aus Liebe sterben, hatte er doch so sehr geliebt, ohne daran zu sterben; er begriff nicht diejenigen, die in ihrem Leben auf sie verzichten, da er nicht ohne sie leben konnte.
    Es machte ihm Spass, unter Leute zu gehen, weil er dabei Frauen bgegnete, die ihn beachteten, und Männern, die ihm zuhörten; er verglich sich mit den geistvollsten, erhob sich über seinesgleichen und amüsierte sich insgeheim über die Dummheit der Dummköpfe und die Hässlichkeit der Hässlichen.

    Er wusste, dass man auf den anrüchigsten Märkten nie das, was man kauft, beim Namen nennen darf, und man auf die Schamgefühle der Schamlosen und die Empfindlichkeit des Pöbels Rücksicht nehmen muss, der Dieb mag es nicht, wenn man über das Stehlen, und der Mörder nicht, wenn man über das Morden redet, denn abgesehen von ihrem Hang zu stehlen oder zu morden sind sie vielleicht im Tiefsten ganz ehrenwert und menschlich.
    Er hielt sich immer noch für sanft, weil er es früher einmal gewesen war; er schätzte sich auch als sehr moralisch ein, weil er gern die Moral bei den anderen feststellen wollte
    So hatte für Henry, indem er das menschliche Leben ernst nahm, dieses nichts wirklich Ernsthaftes; zwar war er ehrenhaft, menschlich zu seinesgleichen und redlich in seinen sozialen Beziehungen, indessen versuchte er mit allen Frauen zu schlafen, alle Männer auszunutzen und möglichst viel Geld zusammenzuraffen; doch das erste dieser Ziele gedachte er zu erreichen, ohne Skandale zu verursachen, das zweite, ohne dass man es bemerkte, und das dritte, ohne dass man ihm etwas vorwerfen oder ihn zur Rechenschaft ziehen könnte; denn den Skandal an sich mochte er gar nicht, sein Egoismus war nicht grösser als bei anderen, und er war wahrlich ein ziemlich ehrenwerter Kerl.