Die erste Éducation Sentimentale


    Trotz seines Hasses auf Menschen war Jules nicht so weit, ihnen sein Vertrauen ganz zu entziehen und dem zu entgehen, sich hereinlegen und über das Ohr hauen zu lassen, allerdings nicht als der hinters Licht Geführte, denn er beteiligte sich nicht an ihrem Gerangel und an ihren Listen und trat in keiner Weise als ihr Rivale auf. Henry dagegen, der die Menschheit liebte, traute keinem seiner Glieder; er teilte sie in zwei grosse Klassen ein; die der Schurken und die der Trottel, er wollte nicht zu der zweiten gehören und schmeichelte sich, auch nicht einer der ersteren zu sein.
    Wenn sie gemeinsam die Auswirkungen eines Vorkommnisses oder das Handeln eines Menschen vorherzusagen versuchten, dann ergab es sich fast immer, dass der Zufall Henry Recht gab, während die Logik auf Seiten Jules' war; manchmal bekam jedoch Jules Recht; dann verstand Henry nichts mehr und war unbeschreiblich überrascht.
    Er verstand nicht die Gleichgültigkeit seines Freundes gegenüber der Polemik und den täglichen Ereignissen, während er das Entstehen der kleinsten Entwick- lungen registrierte und der Spur der winzigsten Vorfälle nachging; Jules seiner- seits sah in dieser kontinuierlichen Beachtung des Gemeinen und Kurzlebigen keinen Sinn; er brachte die Meinungen innerhalb ein und derselben Partei zu sehr durcheinander, als dass er von den Debatten in den Kammern irgendetwas verstanden hätte, und er unterschied nicht genug die individuellen Ambitionen, um sich auf die wechselvollen Abläufe eines Ministeriums einstellen zu können.

    Was die Geschichte betraf, so untersuchte er, um sich über das Gesamt- geschehen ein Urteil bilden zu können, die den Kern bildenden Massen, und die Leidenschaften der Menschen, um ihr Handeln zu verstehen; Henry war bei denselben Studien ausschliesslich auf der Suche nach den Ursachen und den Auswirkungen, doch ging er bei den Ursachen nicht weit genug zurück, und bei den Auswirkungen schaute er nicht weit genug voraus.
    Sein Gesamtbild war ebenfalls ganz äusserlich und ging nicht über die Einzelheiten hinaus, die ihm den Anlass dafür geliefert hatten; er hatte kein Gespür für etwas, dem er noch nicht begegnet war, und er erriet es nie, wenn er nicht darüber gelesen hatte; tatsächlich konnte er, da er ein Buch eilig schloss, sobald er die letzte Seite gelesen hatte, sich nicht in die geistige Arbeit einer Wiederherstellung stürzen, die die Toten wieder zum Leben erweckt, Ruinen zurückverwandelt und der Vergangenheit ein reales Leben verleiht, – Produkt eines einsamen Hirns, zusammengesetzt aus Wissen und Vorstellung, eine komplexhafte Verkindlichung des Geistes, ein stummes und fruchtbares Werk, durch das die Geschichte sich auf das Niveau von Philosophie und Kunst erhebt; da sie des analytischen Experimentierens bedarf, um wahr zu werden, und der Verbindung verschiedener Perspektiven, um es zu scheinen.
    In dem noch unvollständigen Zustand seiner Studien begnügte Jules sich damit, die unterschiedlichen Meinungen und Voraussetzungen, so wie er sie sah, vorzustellen und es anderen zu überlassen, Schlüsse daraus zu ziehen; Henry hatte bloss an den Stellen Zweifel, an denen ein Zweifel angebracht war; er war von allem überzeugt, was allgemein geglaubt wird, und er leugnete entschieden alles, was verneint wird.