Da sie von zwei entgegengesetzten Grundsätzen, von zwei unterschiedlichen Punkten ausgingen und jeder
sich auf ein anderes Ziel, zu einen anderen Endpunkt hin bewegte, konnten sie sich also nie begegnen, obwohl sie
sich hin und wieder mit erhobenen Stimmen anriefen, obwohl sie manchmal, sei es aus Entgegenkommen oder aus
Erschöpfung, auf ihrem Weg anhielten.
War es nicht ein dummer Gedanke, eine gemeinsame Reise zu unternehmen und Italien zu besuchen? Schade drum!
ihre Freundschaft ging so bedrückt und krank daraus hervor wie die Schwindsüchtigen, wenn sie von der
Wasserkur kommen. Während der vier Monate, die sie zusammen verbrachten, gab es nicht einen Sonnenstrahl,
der sie mit der gleichen Wärme wärmte, nicht einen Stein, den sie mit dem gleichen Blick betrachteten.
Henry stand morgens sehr früh auf, lief durch die Strassen, zeichnete die Denkmäler, stöberte in
den Bibliotheken, besuchte alle Museen, sah sich alle Einrichtungen an, sprach mit aller Welt. Jules, der einen
Teil der Nächte damit verbrachte, im Colosseum umherzuirren, stand erst gegen Mittag auf und ging
anschliessend ohne eine feste Vorstellung los, ohne sich vorgenommen zu haben, sich irgendetwas anzusehen, er blieb
stehen, um die Bettler zu betrach- ten, die in der Sonne schliefen, um die Frauen zu beobachten, die auf den Schwellen
ihrer Haustüren spannen, um die Tauben auf den Kirchendächern gurren zu hören. Vom Zufall dahin
geführt, wohin seine Einfälle ihn lenkten, und verloren in seinen Grübeleien kehrte er zehnmal
zurück, um ein Bild auf einem Gemälde zu betrachten, und er ging dann, ohne die Galerie kennenzulernen.
Er hätte sein ganzes Leben damit verbringen können, sich das anzusehen, was Henry an einem Tag sah, und
für das, wofür dieser zehn Zeilen brauchte, um etwas auszusagen, hätte er einen ganzen Band gebraucht;
Henry füllte ein ganzes Tagebuch, Jules schrieb nur hin und wieder ein paar bruchstückhafte Verse nieder,
mit denen er dann seine Zigarre anzündete.
Jules hörte und Henry sah, der eine suchte die Anregung und der andere wollte sich bilden; zwar lebten
sie in guter Eintracht zusammen und es gab zwischen ihnen keinerlei besonderen Streitpunkte, doch befanden sie sich
jeder in einer vollständigen Einsamkeit, und was sie an Gedanken austauschen konnten, wurde in den
künstlichsten Worten ihres inneren Empfindens mitgeteilt, so wie sie es zu jedem beliebigen, zu einem
Passanten, dem Erstbesten hätten sagen können.
Das Leben verging auf diese Weise in trügerischen Zuneigungen, in einem undeutlichen Verströmen;
diejenigen, die in demselben Bett schlafen, haben unterschiedliche Träume, man behält seine Gedanken für
sich, weist sein Glück zurück, verbirgt seine Tränen; der Vater erkennt seinen Sohn nicht und der
Ehemann nicht seine Frau, der Liebhaber gesteht seiner Geliebten nicht seine ganze Liebe, der Freund versteht den
Freund nicht, – sie sind Blinde, die im Finsteren umhertappen, um sich zu begegnen, und die sich stossen und
sich verletzen, wenn sie aufeinandertreffen.