Noch schlimmer war es in der Literatur; Henry hatte sich ganz und gar von den übersteigerten
Vergötterungen seiner Jugend abgekehrt, doch mit der Übersteigerung war auch der Enthusiasmus
verlorengegangen, dieses höchste Verständnis für das Schöne; die Mittelmässigkeit
eines Gedankens störte ihn nicht, und er betete auch nicht mehr mit Leib und Seele die Grossen Werke an.
Im Übrigen hatten sich seine Vorlieben und Verehrungen allesamt nach einer anderen Richtung gewandt und
hatten nicht mehr denselben Charakter. Welch Unterschied zu Jules, der ausschliesslich künstlerische
Lobeshymnen anstimmte und dessen Antipathien einen nervösen Zug hatten.
Die Bücher, die Henry abends vor dem Einschlafen im Bett las, waren neuerschienene Romane, zudem
Tagesartikel, Feuilletons oder Singspiele. Wenn ihm danach war, ernsthafte Werke zu lesen, dann waren es die der
literarisch bedeutendsten Epochen, die der brilliantesten Genies mit dem ausgefeiltesten Stil; sein bevorzugter
Dichter war Horaz; er las auch gern die Reden Ciceros; wollte bei Racine etwas von seiner eigenen Sanftheit
wiederfinden und erfreute sich sogar an den zahlreichen und immer gleichen stilistischen Wendungen bei Fénelon.
Von der Romantik – ein alter Begriff, den man in Ermangelung eines besseren benutzt – hatte er nur
die äusserlichste und die sozusagen am wenigsten romantische Seite bewahrt, diese Romantik mit
Spitzbögen und Kettenhemd, die sich zu der Goethes und Byrons wie die Klassik des Kaiserreichs zur
Klassik des XVIIten Jahrhunderts verhält, deren Vater vielleicht Walter Scott und deren Totengräber
ganz sicher der Bibliophile Jacob war. Wenn er daher die anhaltende Bewunderung für anerkannte Vorbilder
aufgab, dann um irgendein unbekanntes Werk eines unverstandenen Genies zu preisen, den er jedesmal als
das erste des Jahrhunderts ansah, und zu dieser Lobpreisung benutzte er immer Ausdrücke einer hyperbolischen
Bewunderung, die der ehrbaren Leute ganz und gar unwürdig war; wenn dann die Mode vorüber oder die
Manie beendet war, dann kehrte er mit umso grösserer Verbissenheit und Ausschliesslichkeit zu seinen
auserwählten Meistern zurück, und es gab nur die und keine anderen.
Im Gegensatz dazu waren für Jules die schwelgerischen Epochen von einer unwiderstehlichen
Anziehungskraft, wie beispielsweise das Bas-Empire und das XVIte Jahrhundert, in denen die volle Pracht des
menschlichen Geistes sich in all ihrem Reichtum und ihrem Überfluss zeigte, in denen alle Elemente sich
mischten und alle Farben verwendet wurden; so wie er auch vor allem von den seltenen Genies verzaubert war,
deren hervorragender Zug die Vielfalt und die Weite sind und auf deren Wahrheit ihre Originalität beruht:
Homer und Shakespeare waren die Götter seines Dichterhimmels. Verspürte er überhaupt das
Bedürfnis, zu einer konkreteren und einfacheren Form zurückzukehren; in der die Objekte für
sich genommen eine grössere Anmut und Ausdruckskraft haben? er ging zur Quelle der Anmut und zur
Verkörperung der Schönheit selbst zurück, das heisst zu den Griechen, zu Sophokles; er las auch
wieder Corneille wegen der Einfachheit und Voltaire wegen der Klarheit.
Henry, der in der Kunst nur Sensationen oder schlicht und einfach geistige Unterhaltung suchte, verstand
sich in dieser Hinsicht nicht mit Jules, der aus ihr Anregungen für die Intelligenz bezog und in ihr das
Leuchten jener erträumten Schönheit suchte, die er in sich spürte.