Die erste Éducation Sentimentale


     So entfernten sich ihre Herzen allmählich voneinander, allein durch die Kraft der Dinge, ohne eine unmittelbare Ursache, ohne Aufgewühltheit oder Schmerzen, gleich einer reifen Frucht, die von dem Tag an, an dem sie gegessen werden sollte, bis zu dem, an welchem sie verfault weggeworfen wird, unmerkliche Veränderungen durchläuft. Auf die enge Verbindung ihrer Jugend folgte eine mehr gelöste, einfache Zuneigung, die weniger unbedingt war und sich leichter lockerte als früher, die aber auch weniger geeignet war, zu wachsen und sich zu erweitern. Wir können unsere früheren freundschaftlichen Gefühle nicht vollständig wegwerfen, damit würde man zu viele Dinge aufgeben und sich mutwillig ihrer entledigen, doch diese selbstbezogene Rücksicht, die noch ruchloser ist als der Hass, ist eine Selbsttäuschung, die uns daran hindert, zu sehen, was wir verloren haben.
    Immerhin teilten sie sich weiterhin ihre Vorhaben und ihre Gedanken mit, wobei sie keine Begründungen mehr für das gaben, was sie unternahmen, und nicht mehr ihre innersten Gedanken preisgaben. Wenn Henry sagte, dass er liebe, dann sprach er nicht mehr offen über die Stärke oder die Schwäche seiner Liebe; wenn Jules von einem Werk sprach, dann enthüllte er nicht seine ganze Verachtung oder seine Bewunderung; da er sich sicher war, dass Henry es nicht wie er aus denselben Gründen verachten würde wie er, es andererseits nicht in demselben Masse oder aus derselben Sicht wie der seinen bewundern würde.

    Henry fand, dass Jules nicht genug an seinen kleinen Glücksmomenten und an all den ehrgeizigen Unternehmungen teilnahm; dieser war darüber gereizt, dass der andere sich nicht ausreichend an seinen Plänen und Arbeiten beteiligte; mit der Folge, dass der eine sein Leben und der andere seinen Geist verbarg. Sie unterhielten sich laufend über die Frauen, über die Kunst, über die Zukunft, aber Jules liebte die Frau, um die Frauen anzubeten, er liebte zu sehr das Erlesene, als dass er sich mit dem Mittelmässigen zufrieden geben konnte, und er liebte zudem zu sehr den Ruhm, als dass er geschätzt werden wollte.
    Henry bemerkte nichts von den tiefen Meinungsverschiedenheiten, die sich zwichen ihnen aufgetan hatten; ihr hättet ihm sagen können, dass seine frühere Freundschaft inniger war, er hätte euch nicht verstanden. Hatte er nicht alle Stadien der Leidenschaft in seiner Liebesbeziehung mit Mme Renaud durchlebt und hatte die Erfahrung an Empfindungen nicht ein wenig die Hülle des Herzens verhärtet, so wie das Laufen die Fusssohlen härter werden lässt? Er hatte einstmals die Bitterkeit der Liebe gespürt, so wie Jules nun die der Freundschaft verspürte, ein noch stärkerer, noch bohrenderer Schmerz, der ihn daran hinderte, an einem anderen, leichteren, dem, der von einer weniger heftigen Leidenschaft herrührte, zu leiden.
    Was Jules betraf, der das Elend dieser jetzt so banalen, früher aber heftigen Zuneigung wahrnahm, so wäre er zweifellos betrübter gewesen, wenn er die Erinnerung daran gehabt hätte, was für ein Mensch er selbst zu jener Zeit war, auch wenn er sich an den Freund von damals erinnerte. Hatte er etwas von dieser Zeit, so sehr er sie vermisste, behalten? Weshalb sollte er Henry wegen dieser Veränderungen Vorwürfe machen, da er selbst sich verändert hatte? Da sie nicht mehr dieselben waren, was wundert es also, dass sie sich nicht wiedererkannten? Die Einsicht in diese Situation führte dazu, dass es Jules weniger schmerzte, als wenn er sie überhaupt nicht verstanden hätte.